6.

[359] In früher Zeit lebte der Sohn eines Priesters, der verkaufte seinen Acker und kaufte dafür drei Klaftern Tuch, Handel damit zu treiben und reiste in ein anderes Land.[359]

Auf dem Wege sahe er einen Haufen Kinder, die hatten eine Maus an einer Schnur und warfen sie ins Waßer und zogen sie wieder heraus. Da bat er die Kinder barmherzig zu sein und die Maus laufen zu laßen, die aber sagten trotzig: »Was geht das dich an? Wir laßen sie nicht!« Da gab er ihnen eine Klafter des Tuches und die Maus war befreiet.

Bald darauf fand er einen Haufen anderer Kinder, die hatten einen jungen Affen gefangen, den schlugen sie und schlugen ihn sehr, und sagten: »Spring! spring ordentlich! spring beßer!« Aber der junge Affe konnt es noch nicht und machte jammervolle Gebehrden.

Der Mann erbarmte sich des Affens und wollte ihn losbitten, aber weil ihn die Kinder nicht losließen, gab er ihnen die zweite Klafter Tuch, da ließen sie ihn los.

Weiter davon hatte ein Haufen Knaben einen jungen Bären, auf welchem sie ritten und ihn prügelten. Da mußte er sein letztes Tuch hingeben, ehe sie den Bären in den Wald ließen.

Nun hatte der Mann nichts zu handeln und nichts zu zehren und dachte: »Was soll ich nun anfangen?«

Als er so denkend weiter ging, fand er auf einer Schilfwiese ein großes Stück seidenes Zeuges mit Goldblumen durchwirkt, das war sehr kostbar. »So hat denn, sprach er zu sich selbst, der Himmel das Tuch siebenfältig ersetzt, um der Barmherzigkeit willen, die du geübt hast.« Aber bald dachte er anders.

Es kamen Leute daher und sahen das Zeug und fragten: Woher hast du das kostbare Seidenzeug? Das Zeug ist mit andern Stücken aus der Schatzkammer des Chans gestohlen. Nun haben wir endlich den Dieb gefunden; aber, wo hast du die anderen Sachen?«[360]

Sie führten ihn vor den Chan, welcher sprach: »Weil du so Unziemliches begangen, so lege man dich in einen großen Kasten, den man mit einem Nagel von Holze verschließe, gebe dir zwei Brodte mit und werfe dich ins Waßer.«

Also geschah es. Aber der Kasten blieb bald hängen am Ufer. Die Luft im Kasten ward bewegt, und der Priesterssohn wäre beinahe erstickt, aber da knasperte Etwas am Holznagel und rief ihm zu: »Nun drücke ein wenig am Deckel!« und als er drückte, wurde es eine kleine Spalte und der Eingesperrte bekam ein klein wenig Luft und erkannte durch die Spalte die Maus, welche er losgekauft hatte.

Die Maus sprach zu ihm, »halte dich noch ein wenig, bis ich meine Gefährten herbeirufe; für mich allein ist es zu schwer!«

Die Maus kam mit dem Affen und mit dem Bären. Der Affe erweiterte die Spalte so viel, daß der Bär mit seiner Pratze hineinkonnte und darauf den Kasten mit Gewalt aufbrach, daß jetzt der Mann herauskonnte und sich auf einem Rasenplatze mitten im Fluße niederließ. Alle drei Thiere brachten ihm hierauf Obst und allerlei Speisen.

Am andern Morgen erblickte der Mann am Ufer einen hellen Schein und sandte den Affen hin. Der Affe brachte ihm einen glänzenden Stein, der ein Wunderstein war.

Da wünschte sich der Mann ans Land, und als er auf dem Lande war, wünschte er sich einen Palast und alsbald stieg mitten auf einem großen Platze ein Palast empor mit allen Gebäuden, Thieren und kostbaren Geräthen, und mancherlei Bäume standen umher, und Springbrunnen trieben lieblich helles Waßer aus Marmorbecken gen Himmel. In diesem Palaste wohnte er nun und behielt seine drei Thiere bei sich.[361]

Nach einiger Zeit kamen Kaufleute nach dieser Gegend, die staunten, sagend: »Wo kommt der Palast her? Hier war sonst ein wüster Platz!« Sie befragten den Priesterssohn und dieser zeigte ihnen den Wunderstein und erzählte ihnen alle seine Schicksale.

Da sprach der Eine: »Nimm Alles, was wir haben, nur laß uns den Stein.« Gutmüthig gab er ihnen den Stein, und ließ ihnen auch ihre Ladungen, »denn, sagte er, ich bin ja glücklich und reich genug!«

Die Kaufleute waren aber nicht dankbar wie die Thiere, denn sie waren nur Kaufleute, und die Gutmüthigkeit hielten sie wie Viele, die nicht Kaufleute sind, für Einfalt.

Als am andern Morgen der Priesterssohn erwachte, saß er im Fluße auf dem Grasplatze und war Alles verschwunden.

Indem er trauernd da saß, kamen die Thiere und fragten: »Was ist dir geschehen?« Als er ihnen erzählt, sprachen Jene: »Du bist fürwahr zu beklagen; aber sprich, wohin ist der mit dem Steine gegangen? – Wir wollen ihn suchen gehen.«

Als sie nun zu dem kamen, der den Wunderstein hatte, sagten Bär und Affe: »Maus, schau umher, wo sich der Wunderstein findet!«

Die Maus schlüpfte durch alle Löcher und kam in ein geschmücktes Gemach, wo der Kaufmann schlief, welcher den Stein bekommen hatte. Der Stein hing am Ende eines Pfeiles, und der Pfeil steckte in einem Reißhaufen, und neben dem Reißhaufen lagen zwei angebundene Katzen. Da wagte die Maus sich nicht an den Wunderstein, und sagt es den Gefährten.

Der Bär war immer träge und daher immer dumm, weil Beides zusammengehört, und sagte: »So ist also kein Mittel[362] mehr; laßt uns demnach zurückkehren.« Der Affe aber widersprach ihm, sagend: »Wohl gibt es vielleicht noch ein Mittel. Maus! gehe zu dem Kaufmann und benage ihm sein Haar, und in der nächsten Nacht siehe, wer neben dem Kißen des Kopfes wird angebunden sein.«

Als am nächsten Morgen der Kaufmann sein Haupthaar benagt fand, band er zu Abend die Katzen ans Kopfkißen an.

Die Maus konnte aber in der nächsten Nacht nicht an dem Pfeil zum Wunderstein hinan. »Nun, sagte der Bär, da gibt es denn weiter kein Mittel; kommt, laßt uns umkehren.« Der Affe aber sagte: »Wohl gibt es dennoch ein Mittel; laßt uns nur nicht gleich verzagen. Maus! gehe und durchwühle den Haufen Reiß bis der Pfeil umfällt, dann bringe den Stein im Maule hieher.«

Die Maus schleppte den Wunderstein bis zum Loche, sie konnte ihn aber nicht durchbringen, denn der Stein war zu groß. Das klagte sie denn den Gefährten. »Nun, sagte der Bär, so gibt es weiter kein Mittel, und wollen wir wieder nach Hause, denn der Affe und ich können doch nicht durch das Mauseloch kriechen.« Aber der Affe erweiterte das Loch mit seinen Pfoten, bis die Maus mit dem Steine hindurchkonnte.

Jetzt wanderten sie zurück, und da sie durch einen Fluß kamen, setzte sich die Maus ins Ohr des Bären, der Affe aber, den Wunderstein in dem Munde, auf den Rücken deßelben.

Als sie in den Fluß kamen, rühmte sich der Bär, daß er auch einmal Etwas that und sagte: »Seht! ist das nicht gut, daß ich Euch alle Drei tragen kann: Affe, Maus und Wunderstein? Aber das macht, weil ich stärker bin als Ihr.«[363]

So sprach er noch Mancherlei, aber Keins antwortete ihm, denn die Maus schlief vor Müdigkeit von der vielen Arbeit, und der Affe hatte den Stein im Munde.

Als nun keine Antwort erfolgte, wurde der Bär recht grollig und sagte: »Wollt Ihr nicht antworten, so werf ich Euch beide ins Waßer.«

»Thue es nicht!« sprach der Affe; und der Wunderstein fiel aus dem Munde ins Waßer.

Als sie jetzt über den Fluß waren, zürnte der Affe, sagend: »Du, Bär, bist doch wahrlich ein dummes Thier!« Da erwachte die Maus und fragte: »Was gibt es?« und der Affe erzählte Alles und sprach: »Den Stein aus dem Waßer zu bringen ist schwerer als Alles. Jetzt wollen wir fortgehen, dahin und dorthin.« Die Maus aber versetzte: »Ich will es versuchen, den Stein aus dem Waßer zu bringen. Ihr Beiden setzet Euch weiter ab.«

Die Maus lief längs des Flußes auf und ab, gleichsam als wäre sie ängstlich; da sprachen die in dem Waßer, »Maus, was hast du für Unruhe?«

Die Maus sprach: »Wißt Ihr denn das nicht einmal, daß ein großes Heer anrückt, das alle Waßerbewohner aus dem Waßer will treiben?«

»O Unglück, riefen die Waßerbewohner; so rathe denn, was nun zu thun sei.«

»Es bleibt, sprach die Maus, kein anderes Mittel, als Steine herbeizutragen und am Ufer einen Damm aufzuführen.« So sprach sie, und die im Waßer brachten Steine aus der Tiefe des Flußes, und endlich brachte ein großer Frosch den Wunderstein und sagte: »Der Stein ist recht schwer!«[364]

»Maus, du bist klug,« sagte der Affe, als der Stein da war. Darauf kamen sie bald zum Priesterssohn, der aber kaum noch lebte. Als er aber den Stein wieder hatte, wünschte er sich ans Land, wünschte dann wieder einen Palast, geschmückt wie der erste, und noch mehr.

Den Stein ließ er nun nicht mehr von sich, aber die drei treuen Gefährten auch nicht. Der Bär aß und schlief; der Affe aß und tanzte und die Maus aß, und schlüpfte durch alle Winkel und Löcher, und der Priesterssohn litt keine Katze im Palaste.

Quelle:
Johann Andreas Christian Löhr: Das Buch der Maehrchen für Kindheit und Jugend, nebst etzlichen Schnaken und Schnurren, anmuthig und lehrhaftig [1–]2. Band 2, Leipzig [ca. 1819/20], S. 359-365.
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