Die weltflüchtige Ratte

[128] Eine Legende der Orientalen

Erzählt von einer gewissen Ratte,

Die sich vor den irdischen Sorgen und Qualen

In einen Holländer Käs zurückgezogen hatte.

Die Einsamkeit

War tief und weit

In diesem Wartesaal zum Paradies,

Darin der Klausner fromm sich niederließ.

Er schaffte so tüchtig mit Zähnen und Füßen,

Daß er in wenig Tagen schon

Neben guter Nahrung – als Gottes Lohn –

Eine Unterkunft hatte zum Beten und Büßen.

Er wurde dick und fett dabei;

Denn Gott verschwendet seine Gaben

An die, die ihn zum Vater haben.

Einst klopfte es an die Einsiedelei.

Der Heilige fragte, wer es sei?

Da hieß es: Boten von den Ratten,

Die ließen ihn um ein Almosen bitten;

Rattopolis habe arg gelitten,

Da die Katzen es rings umschlossen hatten,

Und immer noch sei die Stadt bedroht,

Und es fehle am allernötigsten Brot,

Und sie bäten um etwas – um Christi willen –

Um den Hunger der Schwächsten so lange zu stillen,

Bis daß die Marder kämen, die Entsatz versprochen;

In wenig Tagen sei die schwere Not gebrochen.

»Meine Freunde,« sprach da aus der Käsezelle

Die fromme Ratte, »derartige Fälle

Und weltlichen Dinge sind mir verhaßt.

Ich trage in Armut der Buße Last;[129]

Nichts kann ich euch geben als nur mein Gebet,

Das gern für die Ratten zum Himmel fleht,

Und ich hoffe, er wird euch nicht vergessen.

Mehr kann ich beim besten Willen nicht tun.«

Und sie zog sich zurück, um sich vollzufressen

Und hinterher sich auszuruhn.


Wem ist wohl das Herz dieser Ratte eigen?

Einem Mönch? – Bei Gott, was fällt euch ein!

So mag sich vielleicht ein Derwisch zeigen,

Ein Mönch aber – würde hilfreich sein.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 128-130.
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