82. Von den Sirenen / und derer lieblichen Gesang: Wie sich Ulysses dafür verwahret.

[142] Es haben die spitzfindigen Poeten durch mancherley Gedichte die Jugend abmahnen wollen von den Lastern / und insonderheit von der ungebührlichen Wollust / unter andern aber ist wol von den fürnehmsten eines dieses / welches sie von den Sirenibus geschrieben / und verhält sich folgender massen:

Im Mittelländischen Meer / zwischen Italien und der Insul Sicilia / haben ihre Wohnung gehabt etliche wunderseltzame Weibes-Personen / Sirenes genannt /welche am Obertheil ihres Leibes trefflich schön gewesen / gleich jungen Mägdlein / unten aber haben sie sich geendet / und sind gestalt gewesen wie Schlangen und Wasser-Hunde. Die Sirenes haben aus der massen schön gesungen / und auf allerley Instrumenten gespielet; wodurch sie die fürübersegelnden Leute alle zu sich gelocket: (denn es unmöglich gewesen / sich von ihnen abzuhalten.) Aber so bald sie derselben mächtig worden / haben sie dieselben zerrissen und aufgefressen. Solches wuste der kluge Ulysses wol: Derhalben wie er auch da fürüber muste / hat er seinen Mitgesellen allen mit Wachs die Ohren zugestopffet / auf daß sie der Sirenen Stimme nicht hören könten. Er aber hat sich an den Mastbaum des Schiffes fest binden lassen / und ist also sicher und unverletzet fürüber gefahren / und diesen Meer-Wundern entkommen.


Was seynd die Sirenes anders als Wollüste / welche die Menschen in das äusserste Verderben stürtzen / ob sie anfänglich wohl sehr süsse zu seyn scheinen? Die Tugend aber / und die guten[143] Künste seynd das Wachs /damit wir versichert und wohl verwahret werden / auf daß uns die Wollust nicht schaden kan.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 142-144.
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