94. Vom hundert-äugigen [163] Argo.

Wie der Gott Jupiter sich nicht begnügen lassend mit seiner Ehefrauen der Junone, unterschiedlich andere Frauen und Jungfrauen liebte / ist unter denselben auch eine gewesen mit Nahmen Io, eines Königs Tochter. Diese hatte Jupiter auch zu seinem Willen bracht; Und damit es die Juno nicht inne[163] würde / hat er die Io in eine schöne weisse Kuh verwandelt / welchen Betrug die Juno alsobald gemercket / und derhalben den Jovem, ihren Ehemann gebeten / er möchte ihr die Kuhe verehren. Jupiter hat ihr / den Argwohn zu vermeiden / solche Bitte nicht abschlagen können. Da hat Juno die Kuh Tag und Nacht fleißig bewahren lassen / durch einen Mann Argus geheissen: Welcher in seinem Haupte für der Stirne hundert Augen hatte / davon nur zwey schlieffen / die andern alle wacheten. Der Argus hat die Kuh wol verwahret. Aber Jupiter wolte die Kuh / oder vielmehr die Io, bißweilen besehen / hat derhalben gedacht / wie er den Argum möchte aus dem Wege raumen: Ist Raths worden / den Mercurium zu solchem seinen Fürhaben zu gebrauchen / weil Mercurius sehr lieblich reden /und beweglich auf der Flöten spielen könte. Mercurius ist zu dem Argo in Gestalt eines Hirten kommen / hat zu pfeiffen angefangen / biß endlich durch den lieblichen und anmuthigen Gesang dem Argo die hundert Augen / eines nach dem andern zugefallen / und also der Argus entschlaffen. Da nimmt Mercurius ein Schwerdt / und hauet dem Argo das Haupt ab. Die Juno aber zum ewigwährenden Gedächtniß hat des Argi hundert Augen genommen / und dem Pfauen in den Schwantz gesetzet. Von diesem hundert-äugigen Argo ist genommen das Sprichwort: Argo oculatior, welches gesaget wird von einem vorsichtigen und weitsehenden Menschen.


Wann einer auch noch so klug und scharffsehend ist /kan er doch wol betrogen werden.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 163-164.
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