49. Die gelehrten Blinden.

[939] Homerus, der allerälteste und edelste unter den Griechischen Poeten ist seines Gesichts beraubet worden /und hat seine meisten Poëmata geschrieben / nachdem er blind geworden. Cl. Appius, der edle Römer /konnte nichts mit seinen Augen sehen / und dennoch rühmet ihn Cicero, als einen grossen und mächtigen Mann im Römischen Regiment / der mit seiner Beredsamkeit und politischen Klugheit / dem gemeinen Wesen grossen Nutzen geschaffet. Ein ander mit Nahmen Drusius, hat nicht allein das Bürgerliche Recht /in seiner Blindheit erkläret / sondern auch öffentliche Schrifften ausgefertiget / wie denn sein Hauß nie ledig gewesen von denen / die ihn um Rath gefraget. Ausidius ein Römischer Rathsherr / ob er gleich blind gewesen / so hat er dennoch der Griechen Geschichte beschrieben. Valerius Paulus ein Raths-Herr und Pontius Lupus ein Ritter zu Rom / sind beyde blind /und dabey gute Advocaten gewesen / welchen das Römische Volck in grosser Menge zugehöret / wenn sie eine Sache bedienet / und sich über ihren Verstand belustiget. Didymus ein Christ im vierdten Seculo, verlohr gar jung sein Gesichte / da er die Buchstaben in der Schule noch nicht fertig gelernet hatte / aber dessen ungeacht / blieb er fest bey dem Studieren /und was die andern mit dem Gesicht erlangten / das erreichte er mit den Ohren / und lernet Poëticam, Rhetoricam, Arithmeticam, Geometriam, Astronomiam und Aristotelis Dialecticam, kam endlich so weit / daß er ein vornehmer Kirchen-Lehrer ward / und schrieb unterschiedliche Bücher / als einen Commentarium über den gantzen Psalter / über den Evangelisten [940] Matthæum und Johannem, zwey Bücher wider die Arrianer / ein Buch vom H. Geiste. Diesen Didymum tröstete Philippus Antonius also: Laß dich o Didyme nichts anfechten / daß du deiner leiblichen Augen beraubet bist / sondern freue dich / daß du Englische Augen hast / damit man GOtt sehen kan /durch welchen das Licht der Erkäntniß angezündet wird. Pygmenius Presbyrer zu Rom soll sich gefreuet haben / daß er weil er blind / die Feinde der Christlichen Kirchen nicht anschauen könte. Als ihm einsmals der abgöttische Käyser Julius begegnet / und ihn also angeredet: Ich sage GOtt Danck / daß ich dich sehe mein Pygmeni: Darauf hat Pygmenus geantwortet: Und ich sage GOtt auch Danck / daß ich dich ô Juliane nicht sehen kan. Anderer Exempel anjetzo zu geschweigen.


Was GOtt in einem nimmt / das ersetzt er wieder in dem andern. Ein scharffer Verstand ist besser denn das natürliche Gesicht.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 939-941.
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