Der Lenz

[38] Da kommt der Lenz, der schöne Junge,

Den alles lieben muß,

Herein mit einem Freudensprunge

Und lächelt seinen Gruß;


Und schickt sich gleich mit frohem Necken

Zu all den Streichen an,

Die er auch sonst dem alten Recken,

Dem Winter, angetan.


Er gibt sie frei, die Bächlein alle,

Wie auch der Alte schilt,

Die der in seiner Eisesfalle

So streng gefangen hielt.


Schon ziehn die Wellen flink von dannen

Mit Tänzen und Geschwätz

Und spötteln über des Tyrannen

Zerronnenes Gesetz.


Den Jüngling freut es, wie die raschen

Hinlärmen durchs Gefild,

Und wie sie scherzend sich enthaschen

Sein aufgeblühtes Bild.


Froh lächelt seine Mutter Erde

Nach ihrem langen Harm;

Sie schlingt mit jubelnder Gebärde

Das Söhnlein in den Arm.


In ihren Busen greift der Lose

Und zieht ihr schmeichelnd keck

Das sanfte Veilchen und die Rose

Hervor aus dem Versteck.[38]


Und sein geschmeidiges Gesinde

Schickt er zu Berg und Tal:

»Sagt, daß ich da bin, meine Winde,

Den Freunden allzumal!«


Er zieht das Herz an Liebesketten

Rasch über manche Kluft

Und schleudert seine Singraketen,

Die Lerchen, in die Luft.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 38-39.
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