Frühlingsblick

[44] Durch den Wald, den dunkeln, geht

Holde Frühlingsmorgenstunde,

Durch den Wald vom Himmel weht

Eine leise Liebeskunde.[44]


Selig lauscht der grüne Baum,

Und er taucht mit allen Zweigen

In den schönen Frühlingstraum,

In den vollen Lebensreigen.


Blüht ein Blümlein irgendwo,

Wirds vom hellen Tau getränket,

Das einsame zittert froh,

Daß der Himmel sein gedenket.


In geheimer Laubesnacht

Wird des Vogels Herz getroffen

Von der großen Liebesmacht,

Und er singt ein süßes Hoffen.


All das frohe Lenzgeschick

Nicht ein Wort des Himmels kündet;

Nur sein stummer, warmer Blick

Hat die Seligkeit entzündet;


Also in den Winterharm,

Der die Seele hielt bezwungen,

Ist ein Blick mir, still und warm,

Frühlingsmächtig eingedrungen.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 44-45.
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