Die Rose der Erinnerung

[104] Als treulos ich das teure Land verließ,

Wo mir, wie nirgend sonst, die Freude blühte,

Mich selbst verstoßend aus dem Paradies

Voll Freundesliebe, holder Frauengüte;


Und als ich stand zum ernsten Scheidegruß

An meiner Freuden maiengrünem Saume,

Als mir im Auge quoll der Tränenguß

Wie warmer Regen nach dem Frühlingstraume:


Da bog sich mir zum Lebewohl herab

Der reichsten einer von den Blütenzweigen,

Der freundlich mir noch eine Rose gab;

Mein Herz verstand sein liebevolles Schweigen.


›Nicht in den Staub, o Freund, hier weine hin,

Hier auf die weichen Blätter dieser Rose!‹

Das war der stummen Gabe milder Sinn;

Und schmerzlich rasch folgt ich dem Wanderlose


In fremde Welten fuhr mich der Pilot,

Vom teuren Lande trennen mich nun Meere;

Und wie mir einst das Lebewohl gebot,

Netz ich die Blume mit getreuer Zähre.


Der Rose inniglicher Duft entschwand,

Es ging die frische Farbenglut verbleichen;

Sie ruht so blaß und starr in meiner Hand,

Des Unverwelklichen ein welkes Zeichen.[104]


Des Unverwelklichen? – sie rauscht so bang,

Will meine Hand die Rose wieder wecken;

Als wär es ein prophetisch trüber Klang,

Hör ich den Laut mit heimlichem Erschrecken.


O Rose der Erinnerung geweiht!

Mir dünket deiner welken Blätter Rauschen

Ein leises Schreiten der Vergänglichkeit,

Hörbar geworden plötzlich meinem Lauschen!

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 104-105.
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