Mein Stern

[120] Um meine wunde Brust geschlagen

Den Mantel der Melancholei,

Flog ich, vom Lebenssturm getragen,

An dir, du Herrliche, vorbei.


Vom Himmel deiner Augen stiegen

Wie Engel Tränen niederwärts

An deinen holdgerührten Zügen

Und priesen mir dein gutes Herz.


Und alle Welten um mich schwanden,

Mein Leben starrt' in seinem Lauf,

Im süßempörten Busen standen

Die alten Götter wieder auf.


Da riß der Sturm von dir mich wieder

Hinaus in seine wüste Nacht;

Doch strahlt nun Frieden auf mich nieder

Ein Stern mit ewig heller Pracht.


Denn wie, vom Tode schon umfangen,

Der Jüngling nach der holden Braut

Die Arme streckt mit Glutverlangen

Und sterbend ihr ins Auge schaut:


So griff nach deinem holden Bilde

Die Seele, schaut es ewig an,

Sieht nichts vom trüben Erdgefilde,

Fühlt nicht die Dornen ihrer Bahn.


Entriss' auch einst der Tod mir strenge,

Was mir das Leben Liebes gab;

Er nehm es hin! doch eines ränge –

Ich ränge kühn dein Bild ihm ab.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 120-121.
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