Das Rosenmädchen

[439] 1.

Ein Mädchen zart und engelrein

Erzog mit liebenden Sorgen

Sich Rosen, doch nur sich allein,

Denn tief im Haine verborgen,

Wo in der Quelle rauschenden Fall

Sich mengen die Lieder der Nachtigall,

Lag sanft erhöht

Das Rosenbeet.[439]


2.

Da stand das Mädchen unschuldsvoll

Und schaut' mit Wonne die Blüten;

Und höher ihr der Busen schwoll,

Die Augen heller ihr glühten.

So sah ich das liebliche Mädchen dort,

Doch ewig blühen die Rosen nicht fort.

Des Mädchens Freud

Währt' kurze Zeit.


3.

Und als die Rosen nicht mehr blühn

Und nimmer flötet die Nachtigall,

War auch des Mädchens Lust dahin –

Sie stand am murmelnden Wasserfall,

Sie stand – von säuselnden Lüften umweht,

Und dachte mit Wehmut: daß alles vergeht,

Das Auge naß,

Die Wange blaß.


4.

Da naht ich freundlich ihr und sprach:

»Die Rose sinket wohl nieder,

Doch weine nicht der welken nach,

Es kehrt der Frühling ja wieder;

Und wie im Frühling das Leben erwacht,

So folgt auf des Grames düstere Nacht

Mit Sonnenblick

Das beßre Glück.«

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 439-440.
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