Bei Gelegenheit einer ländlichen Unterhaltung in Bordacs

[451] Die Göttin des Glücks


Was rauscht durch diese Pappeln? – horchet, Brüder!

Als naht' ein Genius aus Himmelshöhn

Und senkte sich auf ihre Wipfel nieder,

So rauscht es durch den Hain mit leisem Wehn.


Welch Schimmer! ha! mich faßt ein süßes Bangen!

Ein Mädchen seh ich dort am Schattenrand

Mit güldnem Fittig, rosenroten Wangen,

Ihr Antlitz ist uns lächelnd zugewandt.


Die Göttin ists des Glücks! o Brüder, eilet

Und rafft ihn auf, den frohen Augenblick,

Solange noch ihr rascher Flügel weilet;

Denn der verlorne kehret nicht zurück![451]


Es kommt ein Tag, die frohe Lust verklinget,

Es zieht die Göttin fort im schnellen Flug;

Und diese Hand, die jetzt den Becher schwinget,

Hält bebend den betränten Aschenkrug.


Drum soll, solang das Mädchen dort uns lächelt

Und manches andre noch, solang der Wein

Noch schmeckt, die Wange Frühlingsluft umfächelt,

Der eitle Gram von uns geächtet sein!


Das Glas gefüllt! Es lebe hoch die Freude

In Euren Herzen! und die Priesterin

Der Freude lebe hoch! die hier uns heute

An ihren Altar rief mit frommem Sinn!


Was Ihr auf Erden Liebes habt, es lebe!

Die Maid, die Euch mit Küssen labt, sie lebe!

Der Freund, der mit Euch lacht und weint, er lebe!

Der Tag, der wieder uns vereint, er lebe!!!

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 451-452.
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