An eine Witwe

[304] Nach einem heftigen Gewitter

Wandl ich allein im tiefen Haine

Und blicke durch das nasse Gitter

Der Blätter auf zum Sternenscheine.


Die sturmesmüden Bäume schweigen;

Nur manchmal rauschen Windeshauche,

Wie eine Mahnung, in den Zweigen,

Dann tropft es nach im dunkeln Strauche.


So fand ich nach den Schmerzgewittern

Dich müd versenkt im stillen Grame;

Doch sah ich deine Tränen zittern,

Wenn dir erklang sein teurer Name.


Der Frühling kam, vor seinem Strahle

Suchst du des Schmerzes traute Schatten

Und führest nach dem fernen Tale

Die Kinder an das Grab des Gatten.[304]


Du wanderst mit den Vaterlosen,

Mit Tränen neu das Grab zu tränken,

Auf das du deiner Wangen Rosen

Gestreut zum treuen Angedenken.


O bring zum Grabe deines Lieben

Von mir auch einen Gruß und sage,

Daß auch mein Herz ihm treu geblieben,

Bring ihm des Jugendfreundes Klage.


Wenn aus dem Aug dir Tränen brechen,

Möcht ich am Grabe dich begrüßen,

Mit dir von seiner Jugend sprechen

Und möchte seine Kinder küssen.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 304-305.
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