Das Ross und der Reiter

[330] Die frische Quelle rinnt herab am Steingesenke,

Der Reiter führt sein Roß zur lang ersehnten Tränke


Aus Bergesadern kühl die klaren Fluten fließen,

In heiße Adern sich des Pferdes zu ergießen.


Der Reiter schaut sein Roß mit innigem Vergnügen,

Wie es die Flut einzieht in lustgedehnten Zügen;


Und wie die Wellen ihm die Mähne wiegend spülen,

Und wie sie eingeschlürft das heiße Blut ihm kühlen.


Der Rappe möchte gern im durstenden Verlangen

Jeglichen Wasserguß, der ihm enteilt, empfangen;


Doch wie er unten trinkt, hört oben schon sein Lauschen

Den reichen Überfluß verheißend niederrauschen.[330]


Der Reiter hat sich auch am Quelle kühl getrunken,

Steht nun im großen Blick des Hochgebirgs versunken.


Er starrt auf Alpen hin, ihr seliges Umnachten,

Das leise Zauberspiel des Lichtes zu betrachten;


Wie mit den fernen Höhn die Strahlen dort verkehren

Und sich in stiller Glut im letzten Kuß verzehren.


Und auf den Wandrer sinkt, den düstern, sehnsuchtkranken,

Der frische Seelentau der himmlischen Gedanken,


Es strömt auf ihn herab die ewge Liebesquelle,

Es kann sein durstend Herz nicht fassen jede Welle;


Doch kann sein Herz auch nicht den ganzen Strom behausen,

So hört er oben schon die ewge Fülle brausen.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 330-331.
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