Der offene Schrank

[321] Mein liebes Mütterlein war verreist,

Und kehrte nicht heim, und lag in der Grube;

Da war ich allein und recht verwaist,

Und traurig trat ich in ihre Stube.


Ihr Schrank stand offen, ich fand ihn noch heut,

Wie sie abreisend ihn eilig gelassen,

Wie alles man durcheinanderstreut,

Wenn vor der Tür die Pferde schon passen.


Ein aufgeschlagnes Gebetbuch lag

Bei mancher Rechnung, von ihr geschrieben;

Von ihrem Frühstück am Scheidetag

War noch ein Stücklein Kuchen geblieben.


Ich las das aufgeschlagne Gebet,

Es war: wie eine Mutter um Segen

Für ihre Kinder zum Himmel fleht;

Mir pochte das Herz in bangen Schlägen.[321]


Ich las ihre Schrift, und ich verbiß

Nicht länger meine gerechten Schmerzen,

Ich las die Zahlen, und ich zerriß

Die Freudenrechnung in meinem Herzen.


Zusammen sucht ich den Speiserest,

Das kleinste Krümlein, den letzten Splitter,

Und hatt es mir auch den Hals gepreßt,

Ich aß vom Kuchen und weinte bitter.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 321-322.
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