Der alte Marko

[180] »Klara, lebst du?« ruft Johannes

Bang mit lautem Herzenspochen;

Klara liegt am Kerkerlager,

Eine Lilie sturmgebrochen.


Stumm, mit trostberaubter Miene,

Steht des Fürsten Arzt daneben,

Ohne Rast mit Blick und Händen

Spürend nach dem teuren Leben.


Abgewaschen ihrem Antlitz

Ist die jungfräuliche Lüge,

Und in bleicher Todesschönheit

Zeigen sich die holden Züge.


Lose sind die wirren Haare,

Blutig sind die zarten Hände,

Die im Sturme sich geklammert

An die rauhen Felsenwände.


In die weiche Brust gedrungen

Ist der Dolch des Mordgesellen,

Und der treue, warme Purpur

Quillt hervor in raschen Wellen.


Und ein stilles, starres Lächeln

Ruht so hold auf ihrem Munde,

Gleich als fühle sie mit Wonne

Bluten ihre tiefe Wunde.


Wer die Liebe hat im Herzen

Mit dem vollen heißen Triebe,

Fühlt wohl auch die süße Sehnsucht,

Hinzusterben für die Liebe;


Hinzuschütten alles Leben

Mit dem einen süßen Worte:[181]

»Dir!« – wie stürzt das Blut so freudig

Durch die aufgerißne Pforte! –


Doch der alte treue Marko

Waltet ohne Rast noch immer;

Sieht vielleicht sein scharfes Auge

Noch wo dämmern einen Schimmer?


Krauter, die der fernste Süden,

Die der höchste Nord geboren,

Seiner Kunst geheimste Kräfte

Werden jetzt von ihm beschworen.


Wonnebebend und verzweifelnd,

Reicht Johannes ihr die Labe;

Seine Seele zittert zwischen

Klaras Lieb und ihrem Grabe. –


Endlich hebt sich ihre Wimper:

O du Seligster von allen!

Freudeschluchzend zum Gebete

Mußt du auf die Kniee fallen!


Und der alte treue Marko

Blickt empor zu Gott und betet:

»Meine Kunst ist deine Gnade,

Die vom Tode sie gerettet!«


Klara hebt die matten Augen

Auf zu dem in Freudezähren,

Dem zuliebe bald auf immer

Sie geschlossen blieben wären.


Und lebendig wird das Lächeln,

Das vom Tode war befangen;

Ein jungfräuliches Erröten

Dämmert auf den bleichen Wangen.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 180-182.
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