Nüchterner Blick

[209] Im Grund begraben wird hier, dort gefunden

Vergangner Pflanzen steingewordne Spur,

Gebein von Tierart, die vorlängst entschwunden,

Die abgelegten Kleider der Natur.

Und wollt ihr dann in staunenden Gedanken

Die Gliedermassen euch zusammenfügen,

Sinds Riesen, überragend alle Schranken,

Ihr schaut Urwelt in großen Schreckenszügen.

Der Riese wandelt – und es bebt der Grund;

Er zürnt – sein Sturmesodem glüht und qualmt,

Von seinem Tritt wird jeder Feind zermalmt;

Wie freut ihr euch, daß tot der große Fund![209]

So dünkt euch schier des Mittelalters Glaube

Ein Ungetüm, das einst von Land zu Land

Verheerend zog und von der Erde schwand;

Ihr wünscht dem Tode Glück zu seinem Raube.

Doch stehn, von allen Stürmen unerschüttert,

Die Münster da, der klugen Zeit ein Grauen,

Wie hohe Felsenkrippen anzuschauen,

Wo jenes Ungeheuer ward gefüttert.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 209-210.
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