Fünfte Szene

[40] In Heidelbrunn. Augustchens Zimmer. Gustchen liegt auf dem Bette. Läuffer sitzt am Bette.


LÄUFFER. Stell dir vor Gustchen, der Geheime Rat will nicht. Du siehst, daß dein Vater mir das Leben immer saurer macht: nun will er mir gar aufs folgende Jahr nur vierzig Dukaten geben. Wie kann ich das aushalten? Ich muß quittieren.

GUSTCHEN. Grausamer, und was werd ich denn anfangen? Nachdem beide eine Zeitlang sich schweigend angesehen. Du siehst: ich bin schwach und krank; hier in der Einsamkeit unter einer barbarischen Mutter – Niemand fragt nach mir, niemand bekümmert sich um mich: meine ganze Familie kann mich nicht mehr leiden; mein Vater selber nicht mehr: ich weiß nicht warum.

LÄUFFER. Mach, daß du zu meinem Vater in die Lehre kommst; nach Insterburg.

GUSTCHEN. Da kriegen wir uns nie zu sehen. Mein Onkel leidt es nimmer, daß mein Vater mich zu deinem Vater ins Haus gibt.

LÄUFFER. Mit dem verfluchten Adelstolz!

GUSTCHEN nimmt seine Hand. Wenn du auch böse wirst, Herrmannchen! Küßt sie. O Tod! Tod! warum erbarmst du dich nicht!

LÄUFFER. Rate mir selber – Dein Bruder ist der ungezogenste Junge den ich kenne: neulich hat er mir eine Ohrfeige gegeben und ich durft ihm nichts dafür tun, durft nicht einmal drüber klagen. Dein Vater hätt ihm gleich Arm und Bein gebrochen und die gnädige Mama alle Schuld zuletzt auf mich geschoben.

GUSTCHEN. Aber um meinetwillen – Ich dachte, du liebtest mich.

LÄUFFER stützt sich mit der andern Hand auf ihrem Bett,[40] indem sie fortfährt seine eine Hand von Zeit zu Zeit an die Lippen zu bringen. Laß mich denken ...


Bleibt nachsinnend sitzen.


GUSTCHEN in der beschriebenen Pantomime. O Romeo! wenn dies deine Hand wäre – Aber so verlässest du mich, unedler Romeo! Siehst nicht, daß deine Julie für dich stirbt – von der ganzen Welt, von ihrer ganzen Familie gehaßt, verachtet, ausgespien. Drückt seine Hand an ihre Augen. O unmenschlicher Romeo!

LÄUFFER sieht auf. Was schwärmst du wieder?

GUSTCHEN. Es ist ein Monolog aus einem Trauerspiel, den ich gern rezitiere, wenn ich Sorgen habe. Läuffer fällt wieder in Gedanken, nach einer Pause fängt sie wieder an. Vielleicht bist du nicht ganz strafbar. Deines Vaters Verbot, Briefe mit mir zu wechseln; aber die Liebe setzt über Meere und Ströme, über Verbot und Todesgefahr selbst – Du hast mich vergessen ... Vielleicht besorgtest du für mich – Ja, ja, dein zärtliches Herz sah, was mir drohte, für schröcklicher an als das, was ich leide. Küßt Läuffers Hand inbrünstig. O göttlicher Romeo!

LÄUFFER küßt ihre Hand lange wieder und sieht sie eine Weile stumm an. Es könnte mir gehen wie Abälard –

GUSTCHEN richtet sich auf. Du irrst dich – Meine Krankheit liegt im Gemüt – Niemand wird dich mutmaßen – Fällt wieder hin. Hast du die Neue Heloïse gelesen?

LÄUFFER. Ich höre was auf dem Gang nach der Schulstube. –

GUSTCHEN. Meines Vaters – Um Gotteswillen! – Du bist drei Viertelstund zu lang hiergeblieben. Läuffer läuft fort.[41]


Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 2, Stuttgart 1965–1966, S. 40-42.
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