Erste Szene

[61] Zu Insterburg. Geheimer Rat. Major.


MAJOR. Hier Bruder – Ich schweife wie Kain herum, unstät und flüchtig – Weißt du was? Die Russen sollen Krieg mit den Türken haben; ich will nach Königsberg gehn, um nähere Nachrichten einzuziehen: ich will mein Weib verlassen und in der Türkei sterben.

GEHEIMER RAT. Deine Ausschweifungen schlagen mich vollends zu Boden. – O Himmel, muß es denn von allen Seiten stürmen? – Da lies den Brief vom Professor M-r.

MAJOR. Ich kann nicht mehr lesen; ich hab meine Augen fast blind geweint.

GEHEIMER RAT. So will ich dir vorlesen, damit du siehst, daß du nicht der einzige Vater seist, der sich zu beklagen hat: »Ihr Sohn ist vor einiger Zeit wegen Bürgschaft gefänglich eingezogen worden: er hat, wie er mir vorgestern mit Tränen gestanden, nach fünf vergeblich geschriebenen Briefen keine Hoffnung mehr, von Eurer Excellenz[61] Verzeihung zu erhalten. Ich redte ihm zu, sich zu beruhigen, bis ich gleichfalls in dieser Sache mich vermittelt hätte: er versprach es mir, ist aber ungeachtet dieses Versprechens noch in derselben Nacht heimlich aus dem Gefängnis entwischt. Die Schuldner haben ihm Steckbriefe nachsenden und seinen Namen in allen Zeitungen bekannt machen wollen; ich habe sie aber dran verhindert und für die Summe gutgesagt, weil ich viel zu sehr überzeugt bin, daß Eure Excellenz diesen Schimpf nicht werden auf Dero Familie kommen lassen. Übrigens habe die Ehre, in Erwartung Dero Entschlusses mich mit vollkommenster ...«

MAJOR. Schreib ihm zurück: sie sollen ihn hängen.

GEHEIMER RAT. Und die Familie –

MAJOR. Lächerlich! Es gibt keine Familie; wir haben keine Familie. Narrenspossen! Die Russen sind meine Familie: ich will Griechisch werden.

GEHEIMER RAT. Und noch keine Spur von deiner Tochter?

MAJOR. Was sagst du?

GEHEIMER RAT. Hast nicht die geringste Nachricht von deiner Tochter?

MAJOR. Laß mich zufrieden.

GEHEIMER RAT. Es ist doch dein Ernst nicht, nach Königsberg zu reisen?

MAJOR. Wenn mag doch die Post abgehn von Königsberg nach Warschau?

GEHEIMER RAT. Ich werde dich nicht fortlassen; es ist nur umsonst. Meinst du, vernünftige Leute werden sich von deinen Phantasien übertölpeln lassen? Ich kündige dir hiermit Hausarrest an. Gegen Leute, wie du bist, muß man Ernst gebrauchen, sonst verwandelt sich ihr Gram in Narrheit.

MAJOR weint. Ein ganzes Jahr – Bruder Geheimer Rat – Ein ganzes Jahr – und niemand weiß, wohin sie gestoben oder geflogen ist.

GEHEIMER RAT. Vielleicht tot –[62]

MAJOR. Vielleicht? – Gewiß tot – und wenn ich nur den Trost haben könnte, sie noch zu begraben – aber sie muß sich selbst umgebracht haben, weil mir niemand Anzeige von ihr geben kann. – Eine Kugel durch den Kopf, Berg, oder einen Türkenpallasch; das wär eine Victorie.

GEHEIMER RAT. Es ist ja eben so wohl möglich, daß sie den Läuffer irgendwo angetroffen und mit dem aus dem Lande gegangen. Gestern hat mich Graf Wermuth besucht und hat mir gesagt, er sei denselben Abend noch in eine Schule gekommen, wo ihn der Schulmeister nicht hab in die Kammer lassen wollen: er vermutet immer noch, der Hofmeister habe drin gesteckt, vielleicht deine Tochter bei ihm.

MAJOR. Wo ist der Schulmeister? Wo ist das Dorf? Und der Schurke von Grafen ist nicht mit Gewalt in die Kammer eingedrungen? Komm: wo ist der Graf?

GEHEIMER RAT. Er wird wohl wieder im Hecht abgestiegen sein, wie gewöhnlich.

MAJOR. O wenn ich sie auffände – Wenn ich nur hoffen könnte, sie noch einmal wieder zu sehen – Hol mich der Kuckuck, so alt wie ich bin und abgegrämt und wahnwitzig; ja hol mich der Teufel, dann wollt ich doch noch in meinem Leben wieder einmal lachen, das letztemal laut lachen und meinen Kopf in ihren entehrten Schoß legen und denn wieder einmal heulen und denn – Adieu Berg! Das wäre mir gestorben, das hieß' mir sanft und selig im Herrn entschlafen. – Komm Bruder, dein Junge ist nur ein Spitzbube geworden: das ist nur Kleinigkeit; an allen Höfen gibt's Spitzbuben; aber meine Tochter ist eine Gassenhure, das heiß ich einem Vater Freud machen: vielleicht hat sie schon drei Lilien auf dem Rücken. – Vivat die Hofmeister und daß der Teufel sie holt! Amen. Gehn ab.[63]


Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 2, Stuttgart 1965–1966, S. 61-64.
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