Zehnte Szene

[93] Lise tritt herein, ein Gesangbuch in der Hand, ohne daß er sie gewahr wird. Sie sieht ihm lang stillschweigend zu. Er springt auf, will knien; wird sie gewahr und sieht sie eine Weile verwirrt an.


LÄUFFER nähert sich ihr. Du hast eine Seele dem Himmel gestohlen. Faßt sie an die Hand. Was führt dich hieher, Lise?

LISE. Ich komme, Herr Mandel – Ich komme, weil Sie gesagt haben, es würd morgen keine Kinderlehr – weil Sie – so komm ich – gesagt haben – Ich komme, zu fragen, ob morgen Kinderlehre sein wird.

LÄUFFER. Ach! – – Seht diese Wangen, ihr Engel! wie sie in unschuldigem Feuer brennen, und denn verdammt mich, wenn ihr könnt – – Lise, warum zittert deine Hand? Warum sind dir die Lippen so bleich und die Wangen so rot? Was willst du?

LISE. Ob morgen Kinderlehr sein wird?

LÄUFFER. Setz dich zu mir nieder – Leg dein Gesangbuch weg – Wer steckt dir das Haar auf, wenn du nach der Kirche gehst?


Setzt sie auf einen Stuhl neben seinem.


LISE will aufstehn. Verzeih Er mir; die Haube wird wohl nicht recht gesteckt sein; es macht' einen so erschrecklichen Wind, als ich zur Kirche kam.

LÄUFFER nimmt ihre beiden Hände in seine Hand. O du bist – Wie alt bist du, Lise? – Hast du niemals – Was wollt ich doch fragen – Hast du nie Freier gehabt?

LISE munter. O ja einen, noch die vorige Woche; und des Schafwirts Grete war so neidisch auf mich und hat immer gesagt: ich weiß nicht, was er sich um das einfältige Mädchen so viel Mühe macht; und denn hab ich auch noch einen Offizier gehabt; es ist noch kein Vierteljahr.

LÄUFFER. Einen Offizier?

LISE. Ja doch, und einer von den recht vornehmen. Ich[93] sag Ihnen, er hat drei Tressen auf dem Arm gehabt: aber ich war noch zu jung und mein Vater wollt mich ihm nicht geben, wegen des soldatischen Wesens und Ziehens.

LÄUFFER. Würdest du – O ich weiß nicht, was ich rede – Würdest du wohl – Ich Elender!

LISE. O ja, von ganzem Herzen.

LÄUFFER. Bezaubernde! – Will ihr die Hand küssen. Du weißt ja noch nicht, was ich fragen wollte.

LISE zieht sie weg. O lassen Sie, meine Hand ist ja so schwarz – O pfui doch! Was machen Sie? Sehen Sie, einen geistlichen Herrn hätt ich allewege gern: von meiner ersten Jugend an hab ich die studierte Herren immer gern gehabt; sie sind alleweil so artig, so manierlich, nicht so puff paff wie die Soldaten, obschon ich einewege die auch gern habe, das leugn ich nicht, wegen ihrer bunten Röcke; ganz gewiß, wenn die geistlichen Herren in so bunten Röcken gingen wie die Soldaten, das wäre zum Sterben.

LÄUFFER. Laß mich deinen mutwilligen Mund mit meinen Lippen zuschließen! Küßt sie. O Lise! Wenn du wüßtest, wie unglücklich ich bin.

LISE. O pfui, Herr, was machen Sie?

LÄUFFER. Noch einmal und denn ewig nicht wieder!


Küßt sie. Wenzeslaus tritt herein.


WENZESLAUS. Was ist das? Proh deum atque hominum fidem! Wie nun, falscher, falscher, falscher Prophet! Reißender Wolf in Schafskleidern! Ist das die Sorgfalt, die du deiner Herde schuldig bist? Die Unschuld selber verführen, die du vor Verführung bewahren sollst? Es muß ja Ärgernis kommen, doch wehe dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt!

LÄUFFER. Herr Wenzeslaus!

WENZESLAUS. Nichts mehr! Kein Wort mehr! Ihr habt Euch in Eurer wahren Gestalt gezeigt. Aus meinem Hause, Verführer![94]

LISE kniet vor Wenzeslaus. Lieber Herr Schulmeister, er hat mir nichts Böses getan.

WENZESLAUS. Er hat dir mehr Böses getan, als dir dein ärgster Feind tun könnte. Er hat dein unschuldiges Herz verführt.

LÄUFFER. Ich bekenne mich schuldig – Aber kann man so vielen Reizungen widerstehen? Wenn man mir dies Herz aus dem Leibe risse und mich Glied vor Glied verstümmelte und ich behielt' nur eine Ader von Blut noch übrig, so würde diese verrätrische Ader doch für Lisen schlagen.

LISE. Er hat mir nichts Leides getan.

WENZESLAUS. Dir nichts Leides getan – Himmlischer Vater!

LÄUFFER. Ich hab ihr gesagt, daß sie die liebenswürdigste Kreatur sei, die jemals die Schöpfung beglückt hat; ich hab ihr das auf ihre Lippen gedrückt; ich hab diesen unschuldigen Mund mit meinen Küssen versiegelt, welcher mich sonst durch seine Zaubersprache zu noch weit größeren Verbrechen würde hingerissen haben.

WENZESLAUS. Ist das kein Verbrechen? Was nennt Ihr jungen Herrn heut zu Tage Verbrechen? O tempora, o mores! Habt Ihr den Valerius Maximus gelesen? Habt Ihr den Artikel gelesen de pudicitia? Da führt er einen Mänius an, der seinen Freigelassenen totgeschlagen hat, weil er seine Tochter einmal küßte, und die Raison: ut etiam oscula ad maritum sincera perferret. Riecht Ihr das? Schmeckt Ihr das? Etiam oscula, non solum virginitatem, etiam oscula. Und Mänius war doch nur ein Heide: was soll ein Christ tun, der weiß, daß der Ehstand von Gott eingesetzt ist und daß die Glückseligkeit eines solchen Standes an der Wurzel vergiften, einem künftigen Gatten in seiner Gattin seine Freud und Trost verderben, seinen Himmel profanieren – Fort, aus meinen Augen, Ihr Bösewicht! Ich mag mit Euch nichts zu tun haben! Geht zu einem Sultan und laßt Euch zum Aufseher über ein Serail dingen, aber nicht[95] zum Hirten meiner Schafe. Ihr Mietling! Ihr reißender Wolf in Schafskleidern!

LÄUFFER. Ich will Lisen heiraten.

WENZESLAUS. Heiraten – Ei ja doch – als ob sie mit einem Eunuch zufrieden?

LISE. O ja, ich bin's herzlich wohl zufrieden, Herr Schulmeister.

LÄUFFER. Ich Unglücklicher!

LISE. Glauben Sie mir, lieber Herr Schulmeister, ich laß einmal nicht von ihm ab. Nehmen Sie mir das Leben; ich lasse nicht ab von ihm. Ich hab ihn gern und mein Herz sagt mir, daß ich niemand auf der Welt so gern haben kann als ihn.

WENZESLAUS. So – daß doch – Lise, du verstehst das Ding nicht – Lise, es läßt sich dir so nicht sagen, aber du kannst ihn nicht heiraten; es ist unmöglich.

LISE. Warum soll es denn unmöglich sein, Herr Schulmeister? Wie kann's unmöglich sein, wenn ich will und wenn er will, und mein Vater auch es will? Denn mein Vater hat mir immer gesagt, wenn ich einmal einen geistlichen Herrn bekommen könnte –

WENZESLAUS. Aber daß dich der Kuckuck, er kann ja nichts – Gott verzeih mir meine Sünde, so laß dir doch sagen.

LÄUFFER. Vielleicht fodert sie das nicht – Lise, ich kann bei dir nicht schlafen.

LISE. So kann Er doch wachen bei mir, wenn wir nur den Tag über beisammen sind und uns so anlachen und uns einsweilen die Hände küssen – Denn bei Gott! ich hab ihn gern. Gott weiß es, ich hab Ihn gern.

LÄUFFER. Sehn Sie, Herr Wenzeslaus! Sie verlangt nur Liebe von mir. Und ist's denn notwendig zum Glück der Ehe, daß man tierische Triebe stillt?

WENZESLAUS. Ei was – Connubium sine prole, est quasi dies sine sole ... Seid fruchtbar und mehret euch, steht in Gottes Wort. Wo Eh ist, müssen auch Kinder sein.

LISE. Nein Herr Schulmeister, ich schwör's Ihm, in meinem[96] Leben möcht ich keine Kinder haben. Ei ja doch, Kinder! Was Sie nicht meinen! Damit wär mir auch wohl groß gedient, wenn ich noch Kinder dazu bekäme. Mein Vater hat Enten und Hühner genug, die ich alle Tage füttern muß; wenn ich noch Kinder obenein füttern müßte.

LÄUFFER küßt sie. Göttliche Lise!

WENZESLAUS reißt sie von einander. Ei was denn! Was denn! Vor meinen Augen? – So kriecht denn zusammen; meinetwegen; weil doch Heiraten besser ist als Brunst leiden – Aber mit uns, Herr Mandel, ist es aus: alle große Hoffnungen, die ich mir von Ihm gemacht, alle große Erwartungen, die mir Sein Heldenmut einflößte – Gütiger Himmel! wie weit ist doch noch die Kluft, die zwischen einem Kirchenvater und zwischen einem Kapaun befestigt ist. Ich dacht, er sollte Origenes der Zweite – O homuncio, homuncio! Das müßt ein ganz andrer Mann sein, der aus Absicht und Grundsätzen den Weg einschlüge, um ein Pfeiler unsrer sinkenden Kirche zu werden. Ein ganz anderer Mann! Wer weiß, was noch einmal geschicht! Geht ab.

LÄUFFER. Komm zu deinem Vater, Lise! seine Einwilligung noch und ich bin der glücklichste Mensch auf dem Erdboden!


Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 2, Stuttgart 1965–1966, S. 93-97.
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