Sechste Szene

[152] In Naumburg.

Wilhelmine auf einem Bette liegend. Frau von Biederling und Graf Camäleon stehen vor ihr.


WILHELMINE. Ich will von keinem Troste wissen, laßt mich, laßt mich, ich will sterben.

FRAU VON BIEDERLING. Deiner Mutter zu lieb, deinem Vater – nur ein klein klein Schälchen warme Suppe – – Du tötest uns mit deinem verzweifelten Gram.

WILHELMINE. Wie soll ich essen, er ist nicht mehr da, wie kann ich essen? Ohne Abschied von mir zu nehmen. Er ist erschossen; er ist ertrunken! o liebe Mama! warum wollen Sie grausamer gegen Ihr Kind sein als alles, was grausam ist? warum wollen Sie mich nicht sterben lassen?

FRAU VON BIEDERLING. Der Unmensch! ohne seine Mutter zu sehen.

GRAF. Wenn man nur erraten könnte, wo er wäre. Und sollt ich bis an den Hof reisen.

FRAU VON BIEDERLING. O Herr Graf! womit haben wir die Güte verdient, die Sie für unser Haus haben?

GRAF. Ich will gleich meinen Gustav nach Dresden abfertigen, vielleicht frägt er ihn dort aus. Ich weiß schon, zu wem ich ihn schicke.

FRAU VON BIEDERLING. Ich möchte den Schlag kriegen, wenn ich der Sache nachdenke. Mein einziger Sohn – ich hab ihn vor den Augen und – fort –

WILHELMINE. O weh! o weh!

FRAU VON BIEDERLING. Soll man den Doktor holen? Unbarmherziges Kind!

WILHELMINE. Ja wenn er töten kann, holen Sie ihn.

GRAF. Um Ihrer unschätzbaren Gesundheit willen –

FRAU VON BIEDERLING. Da hilft kein Zureden, Herr Graf! Der liebe Gott hat beschlossen, es aus mit uns zu machen. O ich unglücklich Weib! Weint.


[152] Herr von Biederling kommt.


HERR VON BIEDERLING. Hopsa, Viktoria, Vivat! Was gibt's, Weib! Mädchen! wo steckt ihr? wo ist unser Sohn? geschwind heraus mit ihm, wo ist er? – Na was soll das bedeuten?

FRAU VON BIEDERLING. Nach wem fragst du?

HERR VON BIEDERLING. Ist das Freud oder Leid? – – Ha ha, ich merk, ihr wollt mich überrumpeln. Nur heraus mit ihm, ich weiß alles, Zopf hat mir alles gesagt – –

FRAU VON BIEDERLING. Du weißt alles und kannst lustig sein? Nun so sei doch die Stunde verflucht – –

HERR VON BIEDERLING. Nun was ist's, Gott und Herr! fängst du schon wieder an zu weissagen? – wo ist er?

FRAU VON BIEDERLING. Reis ihm nach, Unmensch! es ist dein Ebenbild.

GRAF. Der Prinz ist verschwunden.

HERR VON BIEDERLING. Tausend Sackerment, was geht mich der Prinz an? nach meinem Sohn frage ich.

FRAU VON BIEDERLING. Ist der Mann rasend worden?

HERR VON BIEDERLING. Meinen Sohn! heraus damit, oder ich werd rasend werden, was sollen die Narrenspossen, ich will ihn sehen. Mine, wo ist dein Bruder, ich befehle dir, daß du mir's sagen sollt.

WILHELMINE schluchsend. Der Prinz?

HERR VON BIEDERLING. Der Prinz dein – Sinkt auf einen Stuhl. Gott allmächtiger Vater –

FRAU VON BIEDERLING. Hat's dir Zopf nicht gesagt?

HERR VON BIEDERLING starr an die Erde sehend. Nichts – nichts –

GRAF. Er ist verschwunden, kein Mensch kann ihn erfragen, ich will aber sogleich –


Geht ab.


FRAU VON BIEDERLING. Er hat ein englisches Gemüt, der Graf.

HERR VON BIEDERLING. Das – das – Steht auf und geht herum. Gott du Allmächtiger! womit hab ich deinen Zorn verdient?


[153] Magister Beza kommt.


MAGISTER BEZA. Ich komme, Ihnen meinen herzlichen Glückwunsch und zugleich meine aufrichtige Kondolenz –

HERR VON BIEDERLING. Hier, Herr Magister! reden Sie mit meiner Frau, ich kann Ihnen nicht antworten. Hier ist lauter Jammer im Hause. Setzt sich aufs Bett. Mine! Mine! was werden wir anfangen?

MAGISTER. Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen – mir ist alles bekannt, es hat sich das Gerücht von dieser wunderseltsamen Begebenheit schon in ganz Naumburg ausgebreitet, aber erlauben Sie mir, Ihnen zu Ihrem Trost aus Gottes Wort zu zeigen, daß bei der ganzen Sache Gott Lob und Dank nicht die geringste Gefahr ist.

HERR VON BIEDERLING. Wie das? Herr Magister! wie das?

MAGISTER. Ja das ist zu weitläuftig Ihnen hier zu explizieren, aber soviel kann ich Ihnen sagen, daß die größten Gottesgelehrten schon über diesen Punkt einig –

HERR VON BIEDERLING. So will ich eine Reise nach Leipzig, vielleicht können sie mir die Heirat gültig machen. Herr Magister, Sie begleiten mich – Mine, beruhige dich.

WILHELMINE. Nimmer und in Ewigkeit.

MAGISTER. Ja, wenn ich nur von meiner Schule mich losmachen – ich wollte Ihnen sonst aus den arabischen Sitten und Gebräuchen klar und deutlich beweisen –

HERR VON BIEDERLING. Ei was, mit der Schule, das will ich verantworten, kommen Sie nur mit mir, Sie können vielleicht den Leipziger Gelehrten noch manches Licht über die Sachen geben, das bin ich versichert, Herr Magister, Sie sind ein gelehrter Mann, das ist der ganzen Welt bekannt.

MAGISTER. O! – ach! –

HERR VON BIEDERLING. Mine! liebe Mine, so beruhige dich doch! Wir wollen gleich einsteigen, Herr! er wird noch nicht abgespannt haben, und vor allen Dingen zuerst den Prinzen aufsuchen. – Mine, gutes Muts, ich bitt dich um Gotteswillen. Ab.[154]


Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 2, Stuttgart 1965–1966, S. 152-155.
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