12.
Piramus und Thisbe

[82] Der junge Piramus in Babel

Hatt in der Wand

Sich nach und nach mit einer heissen Gabel

Ein Loch gebrannt.


Hart an der Wand da schlief sein Liebchen

Die Thisbe hieß

Und ihr Papa auf ihrem Stübchen

Verderben ließ.


Die Liebe geht so wie Gespenster

Durch Holz und Stein.

Sie machten sich ein kleines Fenster

Für ihre Pein.


Da hieß es, liebst du mich? da schallte:

Wie lieb ich dich!

Sie küßten Stundenlang die Spalte

Und meynten sich.


Geraumer ward sie jede Stunde

Und manchen Kuß

Erreichte schon von Thisbens Munde

Herr Piramus.


In einer Nacht, da Mond und Sterne

Vom Himmel sahn,

Da hätten sie die Wand so gerne

Beyseits gethan.[83]


Ach Thisbe! weint er; sie zurücke:

Ach Piramus!

Besteht denn unser ganzes Glücke

In einem Kuß?


Sie sprach: ich will mit einer Gabe,

Als wär ich fromm,

Hinaus bei Nacht zu Nini Grabe,

Alsdann so komm!


Dies darf mir der Papa nicht wehren,

Dann spude dich.

Du wirst mich eifrig bethen hören,

Und tröste mich.


Ein Mann ein Wort! Auf einem Beine

Sprang er für Lust:

Auf Morgen Nacht da küß ich deine

Geliebte Brust.


Sie, Opferkuchen bei sich habend,

Trippt durch den Hayn,

Schneeweiß gekleidt, den andern Abend

Im Mondenschein.


Da fährt ein Löwe aus den Hecken,

Ganz ungewohnt,

Er brüllt so laut: sie wird vor Schrecken

Bleich wie der Mond.


Ha, zitternd warf sie mit dem Schleyer

Den Korb ins Graß

Und lief, indem das Ungeheuer

Die Kuchen aß.[84]


Kaum war es fort, so mißt ein Knabe

Mit leichtem Schritt

Denselben Weg zu Nini Grabe –

Der rückwärts tritt,


Als hätt ein Donner ihn erschossen:

Den Löwen weit –

Und weiß im Grase hingegossen

Der Thisbe Kleid. –


Plump fällt er hin im Mondenlichte:

So fällt vom Sturm

Mit unbeholfenem Gewichte

Ein alter Thurm.


O Thisbe, so bewegen leise

Die Lippen sich,

O Thisbe, zu des Löwen Speise

Da schick ich mich.


Zu hören meine treuen Schwüre

Warst du gewohnt;

Sey Zeuge wie ich sie vollführe,

Du falscher Mond!


Die kalte Hand fuhr nach dem Degen

Und dann durchs Herz.

Der Mond fieng an sich zu bewegen

Für Leid und Schmerz.


Ihn suchte Zephir zu erfrischen

Umsonst bemüht.

Die Vögel sangen aus den Büschen

Sein Todtenlied.[85]


Schnell lauschte Thisbe durch die Blätter

Und sah das Graß,

Wie unter einem Donnerwetter,

Von Purpur naß.


O Gott, wie pochte da so heftig

Ihr kleines Herz!

Das braune Haupthaar ward geschäftig,

Stieg himmelwärts.


Sie flog – Hier zieht, ihr blassen Musen,

Den Vorhang zu!

Dahinter ruht sie, Stahl im Busen:

O herbe Ruh!


Der Mond vergaß sie zu bescheinen,

Von Schrecken blind.

Der Himmel selbst fieng an zu weinen

Als wie ein Kind.


Man sagt vom Löwen, sein Gewissen

Hab ihn erschröckt,

Er habe sich zu ihren Füssen

Lang hingestreckt.


O nehmt, was euch ein Beispiel lehret,

Ihr Alten, wahr!

Nehmt euch in Acht, ihr Alten! störet

Kein liebend Paar.

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Gedichte, Berlin 1891, S. 82-86.
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