15.

[87] Ach, bist du fort? aus welchen güldnen Träumen

Erwach' ich jetzt zu meiner Qual!

Kein Bitten hielt dich auf, du wolltest doch nicht säumen,

Du flogst davon zum zweitenmal.


Zum zweitenmal sah ich dich Abschied nehmen,

Dein göttlich Aug' in Thränen stehn,

Für deine Freundinnen – des Jünglings stummes Grämen

Blieb unbemerkt, ward nicht gesehn.


O warum wandtest du die holden Blicke

Beim Abschied immer von ihm ab?

O warum ließest du ihm nichts, ihm nichts zurücke

Als die Verzweiflung und das Grab?


Wie ist die Munterkeit von ihm gewichen!

Die Sonne scheint ihm schwarz, der Boden leer,

Die Bäume blühn ihm schwarz, die Blätter sind verblichen,

Und alles welket um ihn her.


Er läuft in Gegenden wo er mit dir gegangen,

Im krummen Bogengang, im Wald, am Bach –

Und findet dich nicht mehr – und weinet voll Verlangen

Und voll Verzweiflung dort dir nach.


Dann in die Stadt zurück, doch die erweckt ihm Grauen,

Er findet dich nicht mehr, Vollkommenheit!

Ein andrer mag nach jenen Puppen schauen,

Ihm sind die Närrinnen verleid't.


O laß dich doch, o laß dich doch erflehen,

Und schreib' ihm einmal nur – ob du ihn liebst!

Ach, oder laß ihn nie dich wiedersehen,

Wenn du ihm diesen Trost nicht giebst![88]


Wie? nie dich wiedersehn? – Entsetzlicher Gedanke!

Ström' alle deine Qual auf mich!

Ich fühl', ich fühl' ihn ganz – es ist zu viel – ich wanke –

Ich sterbe, Grausame – für dich!

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Gedichte, Berlin 1891, S. 87-89.
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