86.
Epistel eines Einsiedlers an Wieland

[205] Wenn Dir, der Du mein Vaterland

An Rosenseilen des Geschmackes leitest,

Dem zauberreichen Gängelband,

Dem jeder folgen muß, obschon ihm unbekannt,

Wohin Dein höherer Verstand

Ihn führen wird, (froh, daß Du ihn begleitest

Verläßt er sich auf Deine Hand!)

Wenn Dir, aus meiner glücklichen Höle,

Dem schönen Hafen dichtrischer Ruh,

Ein Ton aus allen Saiten der Seele

Gefallen kann, so höre mir zu!


Zu lange, falschen Heiligen gleich,

Die, weil sie selbst sich plagen, verlangen,

Es dürfe glücklich zu seyn kein Sterblicher sich erfangen,

Und, nur für andre wizig und reich,

Zu keinem Genuß des Daseyns gelangen,

Zu lange wärmt' ich mich, mit hämischem Gesicht,

An Deinem mir zu blendenden Licht,

Das, wie des Himmels Gestirn, sanftschmeichelnd über uns gleitet.

In finstre Wälder Klarheit verbreitet,[205]

Und, unbekümmert ob wir's sehen,

Klippen und Thäler, Sümpf' und Seen,

Aecker, Wiesen und weinvolle Höhen,

Die ganze Aussenseite der Welt,

So wie sie ist, uns vor Augen stellt.

Was sag' ich, wie sie ist? Die magische Binde,

Durch die Du sie weisest, stimmt uns gelinde

Sie mit Entzücken zu sehn, und geschwinde

Kleidt sich Alles in Aether ein,

Und wir glauben unsterblich zu seyn.

O, für den Augenblick, was geben,

Freudenwecker! wie danken wir dir!

Nur in solchem Moment' ist das Leben

Werth der Mühe darnach zu streben;

Nur in solchem Moment' ist das Herz

Höherer Wesen Lustspiel und Scherz!

Denn es umfast mit Lieb' und Freude,

So wie sie, ein Weltgebäude

Mit allem, was es von Glück umschliest,

Fühlt sich Gott gleich und geniest.


Laß den Müssiggänger wähnen,

Auch ihm werde die frohe Angst

Bey all den Schäzen, mit denen Du prangst,

Der feine Spott, die wollustreichen Thränen,

Die Du aus unserm Auge sangst,

Im Sofa kommen, wenn er, um besser zu gähnen,

Mit Nerven von Laster und Trägheit erschlafft,

Aus Deinem Wize sich Opium schafft,

Gleich einem Sultan ohne Sehnen,

Erbarmungswerth im Arm paradiesischer Schönen;

Oder laß die andere Art

Gleich unheilbarer Müßiggänger,

Aufgeblähter Schmetterlingsfänger,

Kunstrichter mit und ohne Bart,[206]

Bald in Dir Moralen suchen,

Bald Dir wie Bube Simri fluchen.

Ihr taubes Ohr hört nur Geschrey;

In ihrer knechtischen Fantasey

Wird jedes reizende Bild Verbrechen.

Thalia, Dich an ihnen zu rächen,

Geht ungesehn bey ihnen vorbey.


Thalia, die Dir die seltene Gabe,

Mit unwiderstehlicher Melodie

Das Laster hinwegzuscherzen, verlieh,

Wies sich, mit deiner Sympathie

Für's Schön' und Grosse, der Erde noch nie,

Schlug nie, mit diesem Zauberstabe,

Im kühlsten Herzen Gefühle hervor,

Die's selbst im Glücke nicht verlor,

Bewaffnete nie das wildeste Ohr,

Selbst im bacchantischen Augenblick,

Mit diesem Nerven für anderer Glück,

Mit diesem Sinn für die Schöne der Tugend

Gekleidt in ewige Schimmer der Jugend,

Wie sie der trägsten Seele gefällt,

Gekleidt wie Venus, die Freude der Welt.


Wer kennt, wie Du, die feinen Uebergänge

Vom Licht zum Schatten, von Wahrheit zum Scherz,

Und wer versteht das Farbengemenge,

Wie Du, bey Sachen für das Herz?

Durch Labyrinthe blühender Gänge,

Gaukelnder Liebesgötter Gedränge

Geht's unvermutet zu einsamen Pläzen,

Wo wir uns hin zu weinen sezen.

Uns überfällt ein seliger Schmerz,

Der ganze Himmel sinkt in das Herz.

So wälzet die Welt die brausenden Fluten[207]

Des scheinbaren Bösen immer zum Guten,

Wo sie ein Götteraug übersieht;

So weiss auch Dein unsterbliches Lied

Der Thorheit kühlsten Mummereyen

Absichten, die sie nicht kennt zu leihen,

Und führt sie tanzend, mit thränendem Blick,

Auf Rosen zu ihrem Herzen zurück.


O komm, mein Wieland! werde mein Lehrer,

Nicht im Gesang – wer sänge nach Dir?

In jener Kunst, dem Freudenstörer,

Dem unberufnen Heidenbekehrer

So böhmisches Dorf! – der Tugend Panier

Mitten im Meere der Welt zu pflanzen,

Und Faunen zu zwingen umherzutanzen,

Bacchantinnen, ergriffen von ihr,

Zum Wunsch' ihrer Kindheit zurückezubringen,

Thrazierinnen fühlbar zu singen,

Zu singen, sag' ich, mit Deinem Gesang,

Und auf dem dornigen Lebensgang,

(So lang man nicht träumen will, dornig und rank!)

Noch immer Blumen genug zu finden,

Und draus elysische Kränze zu winden;

Komm, schliesse dich mit Göthen an,

Melpomenens Liebling, mich zu bilden,

Und macht, aus einem Waregischen Wilden,

Der keinen Vorzug kennt, als daß er fühlen Euch kann,

Einen Eurer nicht unwerthen Mann.

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Gedichte, Berlin 1891, S. 205-208.
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