9.
Gemählde eines Erschlagenen

[77] Blutige Lokken fallen von eingesunkenen Wangen;

Furchtbar, zwischen Hülfe rufend geöfneten, schwarzen

Lippen laufen zwey Reihen scheußlicher Zähne, so ragen

Dürre Beine aus Gräbern hervor; die gefalteten Hände

Dekket Blässe, die unter zersplitterten Nägeln zum Blau wird:

Denn im einsamen schrekkenden Walde hat er sich ängstlich

Mit verlarvten Mördern gerungen: es hallten die Wipfel

Von seinem bangen Rufen und dem mördrischen Murmeln

Seiner Gegner; bald erlagen die Kräfte des Kämpfers,

Schlaffe Arme strekt' er vergeblich, die tödtlichen Aexte

Von seinem Haupt abzuhalten; sie, die sonst schüchterne Vögel

Aus den gefällten Bäumen verscheuchten, spalteten izo

Grausam die Gehirnsprüzzende Scheitel des sterbenden Mannes,

Dessen Seele ungern vom röchelnden Busen emporstieg. –

Streifende Jäger fanden den zerzerreten Körper

In dem See von eigenem Blut, aus welchem die Gräsgen

Ihre beflekten Spizzen scheu erhoben: sie brachten

Ihn der untröstbaren Wittwe, die sein dunkeles Auge

Noch zu bedauren schien: noch sichtbar war auf der Wange

Der sonst freundliche Zug, auf der verunstalteten Stirne

Die kenntbare Runzel, die oft ein ahndender Kummer

In melancholischen Stunden drauf pflanzte. –

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Gedichte, Berlin 1891, S. 77-78.
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