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[219] So soll ich dich verlassen, liebes Zimmer,

Wo in mein Herz der Himmel niedersank,

Den ich aus ihrem Blick, wie seelig, aus dem Schimmer

Der Gottheit auf der Wange trank,

Wenn sich ihr Herz nach ihm, nach ihm empörte,

Und ihr entzücktes Ohr der Sphären Wollaut hörte,

Wenn sie mit Shakespeare der ihren Geist umfieng

Ha zitternd oft für Furcht und Freude,

Der Engel Lust im süßen Unschuldskleide,

In die Mysterien des hohen Schicksals gieng:

Auch ich sah ihren Pfad, auch mir

War es vergönnt ein Röschen drauf zu streuen,

Zur Priesterinn des Gottes sie zu weihen

Und hinzuknieen vor ihm und ihr.


Ach wär ich nur so rein gewesen,

Als die Erscheinung dieses Glücks

Vorausgesezt! Ihr höhern Wesen,

Verzeiht dem Strauchelnden, euch waren sie erlesen;

Doch Ewigkeiten Lust sind Kranken, die genesen,

Nur Freuden eines Augenblicks.


Ja es erwarten dich du Himmelskind! der Freuden

Unzählige, durch selbstgemachte Leiden

Dir unbegreiflich, längst erkauft,

Mit Tränen ingeheim getauft.

Ja es erwartet dich, was du nicht lösen könntest,

Der Räzel Allentwickelung,

Und höherer Gefühle Schwung

Wovor dir schwindelte, die du dir selbst nicht gönntest.[220]


Indessen wird die weisse Hand

Des Jünglings Ungestüm beschränken,

Und wenn die Seele schon auf blassen Lippen stand

Die Lust zum Leben wiederschenken.

Ich aber werde dunkel seyn,

Und gehe meinen Weg allein.

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Gedichte, Berlin 1891, S. 219-221.
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