92.
Die Geschichte auf der Aar

[221] »Was machst du hier, lieb Mägdelein,

Am Wasser tief und schnelle?

Und sitzest da am Bach allein

Mit nassen rothen Bäckelein

Und gukst auf eine Stelle?

Hat dich die Mutter was bedroht?

Bekamst du heut kein Morgenbrod?

Hat Bruder dich geschlagen?

Du kanst mir alles sagen.«


Das Mägdlein schaut ihm ins Gesicht

Sieht, kehrt sich weg und redet nicht.

»Sag, wo bist du zu Hause?«

»Herr! dort in jener Klause.« –

Er kriecht zur kleinen Thür herein

Und find't ein hagres Mütterlein

Auf schlechten Binsen liegen.

»Sagt, liebe Frau, was fehlt dem Kind?

Es sitzt da draussen in dem Wind

Und ist nicht still zu kriegen.«[221]


»Ach, lieber Herr,« das Mütterlein

Mit schwerem Husten saget,

»Es geht den ganzen Tag allein

Und leid't nicht, daß mans fraget.

Es hat von seiner Kindheit an

Nichts als beständig weinen 'than.«


»So wahr ein Gott im Himmel ist:

Euch muß was heimlich quälen,

Ihr sagt nicht alles, was ihr wißt;

Ihr sollt mir nichts verheelen.«


»Nun lieber Herr« – und faßt den Mann

Mit beiden welken Händen an:

»Geht an den Strom, fallt auf die Knie

Und dann kommt wieder morgen früh;

Wird sich mein Husten kehren,

So sollt ihr alles hören.«


Der Blick, der Ton, der Händedruck

Dem Fremden an die Seele schlug,

Er geht zum Bach, fällt auf die Knie;

Kommt zu dem Weiblein morgens früh,

Find't sie in bittren Zähren.

»Ach, Herr! was uns verlohren ging

Kann dieses Blatt und dieser Ring

Euch baß, denn ich erklären.«


Mit diesem Wort zieht sie ein Tuch

Aus ihrer Brust, darinn ein Buch

Und in dem Buch ein Blättlein war,

Bemalt mit plumpen Farben zwar,

Und an dem Farben-Blättlein hing

Als Siegel ihr Verlöbnis-Ring.[222]


Auf diesem Blättlein schwamm ein Weib

Im höchsten Strom mit halbem Leib.

Ihr Kahn war umgeschlagen,

Und an des Weibes Zipfel faßt

Ihr Ehmann sich, doch diese Last

Schien's Wasser nicht zu tragen.


Je mehr der Fremd' aufs Blättlein sieht,

Je mehr ihm Aug' und Stirne glüht,

Und darf sie nichts mehr fragen,

Biß sie die Brust thät schlagen,

Und weint' und heulte ausser sich:

»Seht, lieber Herr, das Weib bin ich!

Um mich mußt' er ertrinken!

Ich in dem Schrecken rief ihm: Mann!

Ach warum faß'st du mich denn an?«

Und gleich sah ich ihn sinken.

Er rief – bey dieser Stelle quoll

Ihr starrend Auge minder –

Er rief im Sinken: »Weib! Leb wol!

Und sorg für unsre Kinder.«

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Gedichte, Berlin 1891, S. 221-223.
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