Petschorins Tagebuch.
Vorwort.

[71] Vor einiger Zeit habe ich erfahren, daß Petschorin auf seiner Rückreise aus Persien gestorben sei. Ich muß gestehen, diese Nachricht verursachte mir eine selbstsüchtige Freude: Es hinderte mich nun nichts mehr, die nachfolgenden Aufzeichnungen zu veröffentlichen, und ich habe diese Gelegenheit benutzt, meinen Namen unter ein fremdes[71] Werk zu setzen. Gebe Gott, daß meine Leser mich wegen eines so unschuldigen Betruges nicht zu strenge tadeln!

Ich habe nur noch einige Aufklärungen zu geben über die Gründe, die mich veranlaßt, dem Publikum die Herzensgeheimnisse eines Mannes zu offenbaren, den ich nicht einmal gekannt. Wär' ich wenigstens noch sein Freund gewesen! Man weiß, was sich die hinterlistige Indiscretion eines wahren Freundes erlauben darf. Aber ich habe ihn nur ein einziges Mal in meinem Leben gesehen, und zwar auf der Landstraße. Ich kann also nicht in den Verdacht kommen, als hätte ich jenen dumpfen Haß gegen ihn genährt, der unter der Maske der Freundschaft nur den Tod oder das Unglück des Betreffenden erwartet, um auf dessen Haupt einen Hagel von Vorwürfen und Rathschlägen, von Spott und Mitleid herabzuschleudern.

Die Lectüre dieser Aufzeichnungen hat mich von der Aufrichtigkeit desjenigen überzeugt, der so unbarmherzig seine eigenen Schwächen und Fehler offen eingestand. Die Geschichte einer Menschenseele, und wäre es auch die der unbedeutendsten Seele, ist vielleicht interessanter und nützlicher, als die Geschichte eines ganzen Volkes, besonders wenn sie das Product der Beobachtungen ist, die ein reifer Geist über sich selbst angestellt hat, und wenn sie ohne den prahlerischen Wunsch geschrieben ist, Theilnahme oder Erstaunen zu erregen. Die Bekenntnisse Rousseau's haben schon den Fehler, daß er sie seinen Freunden vorlas.

Also nur der Wunsch, nützlich zu sein, hat mich bewogen, Bruchstücke aus einem Tagebuche zu veröffentlichen, das mir der Zufall in die Hände gespielt. Obgleich ich alle Eigennamen geändert habe, werden doch wahrscheinlich diejenigen, um die es sich handelt, sich erkennen, und vielleicht werden sie Nachsicht mit den Fehlern eines Mannes haben, der mit dieser Welt nichts mehr zu thun hat und den sie bis jetzt so streng beurtheilt haben. Wir entschuldigen ja fast immer das, was wir begreifen.[72]

Ich habe mich darauf beschränkt, diesen Aufzeichnungen nur das zu entlehnen, was sich auf Petschorins Aufenthalt im Kaukasus bezieht. Es befindet sich in meinem Besitz ein dickes Heft, in welchem er die Geschichte seines ganzen Lebens erzählt. Eines Tages gedenke ich auch diese dem Urtheil der Welt vorzulegen; augenblicklich wage ich es aus viel gewichtigen Gründen nicht, die Verantwortlichkeit hierfür auf mich zu nehmen.

Vielleicht möchten manche meiner Leser gern erfahren, wie ich selbst über Petschorins Charakter denke. Meine Antwort ist – der Titel dieses Buches. – Aber, werden sie sagen, das ist ja nur eine boshafte Ironie! – Wer weiß?

Quelle:
Lermontoff, Michael: Ein Held unsrer Zeit. Leipzig [o. J.], S. 71-73.
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