Fünftes Kapitel

[366] Welche Überlegungen Gil Blas vor dem Einschlafen anstellte und welches Geräusch ihn weckte


Zwei Stunden wenigstens grübelte ich über das, was Tordesillas mir mitgeteilt hatte. Ich bin also hier, sagte ich, weil ich dem Erben der Krone zu seiner Lust verholfen habe! Wie unklug auch, einem so jungen Prinzen solche Dienste zu leisten! Denn nur seine große Jugend macht mein Verbrechen aus: wäre er in vorgerückterem Alter gewesen, so hätte der König vielleicht über das gelacht, was ihn jetzt erzürnt. Aber wer kann dem Monarchen eine solche Warnung gegeben haben, ohne den Groll des Prinzen oder des Herzogs von Lerma zu fürchten? Der Minister wird seinen Neffen, den Grafen von Lemos, zweifellos rächen wollen. Wie hat der König es entdeckt? Das begreife ich nicht.

Darauf kam ich immer wieder zurück. Aber der betrüblichste Gedanke – er trieb mich zur Verzweiflung, und ich konnte nicht von ihm loskommen – war für mich der an die Plünderung, die man, wie ich mir denken konnte, an meinem Besitz vornahm. Meine Geldtruhe, rief ich, wo bist du? Mein teurer Reichtum, was ist aus dir geworden? In welche Hände bist du gefallen? Ach, ich habe dich noch schneller verloren als gewonnen! Ich malte mir die Verwirrung in meinem Hause aus, und ich stellte darüber immer betrübendere Überlegungen an. Die Verwirrung so vieler verschiedener Gedanken übermannte mich, und das war gut: Morpheus,[366] der mich die Nacht zuvor geflohen hatte, goß sein Mohnhorn über mich aus. Das gute Bett, die durchlebten Anstrengungen und der Wein sowie die Verdauung der Speisen wirkten mit. Ich versank in tiefen Schlaf, und allem Anschein nach wäre der Tag so über mich hereingebrochen, wenn mich nicht plötzlich für ein Gefängnis ziemlich ungewöhnliche Laute geweckt hätten. Ich hörte den Klang einer Gitarre und zugleich die Stimme eines Menschen. Ich lauschte aufmerksam und hörte nichts mehr; ich glaubte schon, ich hätte geträumt. Aber gleich darauf drang der Klang des Instruments von neuem an mein Ohr, und die gleiche Stimme sang die folgenden Verse:


Ay de mi! un anno felice

Parece un soplo ligero,

Pero sin dicha un instante

Es un siglo de tormento.1


Diese Strophe, die eigens für mich gedichtet zu sein schien, reizte meinen Kummer von neuem. Nur zu sehr, sagte ich, erfahre ich die Wahrheit dieser Worte. Die Zeit meines Glücks scheint mir rasch entschwunden, und schon bin ich ein Jahrhundert im Gefängnis. Ich tauchte wieder in die furchtbaren Grübeleien hinab und begann von neuem, als fände ich Freude daran, zu verzweifeln. Meine Klagen endeten erst mit der Nacht; die ersten Strahlen der Sonne, die in mein Zimmer fielen, beruhigten meine Sorgen ein wenig. Ich stand auf, um mein Fenster zu öffnen und Luft ins Zimmer zu lassen. Ich blickte aufs Land hinaus und entsann mich, daß Don Andreo es mir als so schön geschildert hatte. Ich sah nichts, was sein Lob hätte rechtfertigen können. Der Eresma, den ich für mindestens dem Tajo gleich gehalten hatte, erschien mir nur als ein Bach; Disteln und Nesseln schmückten seine ›blühenden Ufer‹; und ›das köstliche Tal‹ bot meinem Blick nur[367] größtenteils unbebaute Äcker. Offenbar war ich noch nicht bei jener sanften Melancholie angekommen, die mir die Dinge anders zeigen sollte, als ich sie sah.

Ich begann, mich anzuziehn und war halb fertig, als Tordesillas mit einer alten Dienerin erschien, die mir Hemden und Handtücher brachte. Herr Gil Blas, sagte er, hier kommt Wäsche, spart nicht damit. Ich werde dafür sorgen, daß Ihr immer genügend habt. Hat der Schlaf Eure Not eine Weile unterbrochen? Ich schliefe wohl noch, erwiderte ich, wenn mich nicht eine Stimme geweckt hätte, die zur Gitarre sang. Der Kavalier, der Eure Ruhe gestört hat, sagte er, ist ein Staatsgefangener, dessen Zimmer neben dem Euren liegt. Er ist Ritter des Kriegerordens von Calatrava und heißt Don Gaston de Cogollos. Ihr könnt Euch sehen und zusammen essen. Ihr werdet einander durch Eure Gespräche trösten; Ihr werdet einander zerstreuen. Ich versicherte Don Andreo, ich sei für die Erlaubnis, meinen Schmerz mit dem dieses Kavaliers zu teilen, sehr erkenntlich; und da ich einige Ungeduld verriet, diesen Leidensgefährten kennenzulernen, so verschaffte mir unser freundlicher Burgherr diese Befriedigung noch selbigen Tages. Er ließ mich mit Don Gaston zu Mittag speisen, der mich durch seine Stattlichkeit und Schönheit überraschte. Man bedenke, was für ein Mensch er sein mußte, wenn er meine Augen blendete, der ich doch gewöhnt war, die glänzendste Jugend des Hofes zu sehn. Man stelle sich einen jener Romanhelden vor, deren bloßer Anblick Prinzessinnen den Schlaf raubt. Man nehme hinzu, daß die Natur, die ihre Gaben sonst verteilt, Cogollos Geist und Tapferkeit verliehen hatte. Er war ein vollendeter Kavalier.

Wenn dieser Kavalier mich entzückte, so war ich meinerseits so glücklich, ihm nicht zu mißfallen. Er sang nachts nicht mehr, um mich nicht zu stören, obgleich ich ihn inständig bat, sich meinethalben keinen Zwang aufzuerlegen. Zwischen zwei Menschen, die ein schlimmes Schicksal bedrückt,[368] knüpft sich gar bald ein Band. So entwickelte sich auch zwischen uns beiden schnell eine enge Freundschaft, die mit jedem Tag stärker wurde. Daß wir so frei miteinander reden konnten, wann es uns gefiel, war uns sehr nützlich, denn durch unsere Gespräche halfen wir einander, unser Leiden in Geduld tragen.

1

Weh mir! Ein glückliches Jahr erscheint als ein leichter Windhauch; aber ein Augenblick des Unglücks ist ein Jahrhundert der Qual.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 366-369.
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