Viertes Kapitel

[362] Wie Gil Blas im Turm von Segovia behandelt wurde und wie er den Grund seiner Gefangennahme erfuhr


Man steckte mich zunächst in einen Kerker, wo man mich wie einen schwerster Strafe würdigen Verbrecher aufs Stroh warf. Die Nacht verbrachte ich, nicht in Verzweiflung, denn ich empfand mein ganzes Unglück noch nicht, sondern mit dem Suchen nach dem Anlaß meiner Verhaftung. Ich zweifelte nicht daran, daß sie Calderones Werk war. Aber wenn ich mir auch dachte, daß er alles entdeckt hatte, so begriff ich doch nicht, wie er den Herzog von Lerma zu so grausamem Vorgehen hatte fortreißen können. Bald bildete ich mir ein, ich sei ohne Wissen Seiner Exzellenz verhaftet; bald dachte ich, der Herzog selber habe mich aus irgendeinem politischen Grunde aufgreifen lassen, wie es die Minister zuweilen mit ihren Günstlingen tun.

Ich war lebhaft mit meinen verschiedenen Vermutungen beschäftigt, als die Tageshelle durch ein kleines vergittertes Fenster fiel und mir das ganze Grauen meines Aufenthaltes zeigte. Da wurde ich maßlos betrübt, und meine Augen wurden zu zwei Tränenquellen, die die Erinnerung an mein Glück unversiegbar machte. Während ich mich meinem Schmerz ganz hingab, kam ein Schließer zu mir in den Kerker und brachte mir für den Tag ein Brot und einen Krug Wasser. Er[362] blickte mich an, und als er sah, daß mein Gesicht von Tränen überströmt war, fühlte er – ein Schließer! – eine Regung des Mitleids. Herr Gefangener, sagte er, verzweifelt nicht. Man darf gegen das Unglück des Lebens nicht so empfindlich sein. Ihr seid jung; auf diese Zeit wird eine andre folgen. Inzwischen eßt bereitwillig das Brot des Königs.

Mit diesen Worten, auf die ich nur durch Klagen und Seufzer antwortete, ließ mich mein Tröster allein, und ich verwandte den Rest des Tages darauf, meinem Stern zu fluchen. Ich dachte nicht daran, meiner Nahrung Ehre anzutun; sie erschien mir in meinem Zustand weniger als ein Geschenk der Güte des Königs, denn als ein Zeichen seines Zornes: sie diente ja eher dazu, die Leiden der Unglücklichen zu verlängern, als sie zu erleichtern.

Derweilen kam die Nacht, und bald zog ein lautes Schlüsselgerassel meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Tür meines Kerkers öffnete sich, und es erschien ein Mann mit einer Kerze. Er trat zu mir und sagte: Herr Gil Blas, Ihr seht einen alten Freund vor Euch. Ich bin jener Don Andreo de Tordesillas, der mit Euch in Granada war und der zur Zeit, da Ihr die Gunst des Erzbischofs genosset, das Amt eines Kämmerers bei diesem Prälaten innehatte. Ihr batet ihn, wenn Ihr Euch entsinnt, seinen Einfluß für mich zu verwenden, und er ließ mir ein Amt in Mexiko verleihen; aber statt mich einzuschiffen, blieb ich in Alicante. Dort heiratete ich die Tochter des Schloßhauptmanns, und durch eine Reihe von Abenteuern bin ich Burgherr im Turm von Segovia geworden. Es ist ein Glück für Euch, fuhr er fort, daß Ihr in einem Mann, der Euch mißhandeln soll, einen Freund antrefft, der nichts versäumen wird, die Härte Eurer Gefangenschaft zu mildern. Ich habe ausdrücklichen Befehl, Euch mit niemandem reden zu lassen; Ihr sollt auf Stroh schlafen und als einzige Nahrung Wasser und Brot erhalten. Aber abgesehn davon, daß ich zu menschlich bin, als daß ich nicht mit Euren[363] Leiden Mitgefühl hätte, habt Ihr mir einen Dienst geleistet, und meine Dankbarkeit wirkt stärker als der erhaltene Befehl. Statt als Werkzeug der Grausamkeit zu dienen, die man gegen Euch walten lassen will, denke ich Euch vielmehr so gut zu behandeln, wie es mir nur möglich ist. Steht auf und kommt mit mir.

Obgleich der Burgherr meinen Dank verdiente, war ich so verstört, daß ich kein Wort erwidern konnte; aber ich folgte ihm doch. Er führte mich durch einen Hof und über eine sehr enge Treppe in ein kleines Zimmer ganz oben im Turm. Ich war nicht wenig überrascht, als ich das Zimmer betrat, zwei brennende Kerzen in kupfernen Leuchtern und zwei ziemlich saubere Gedecke zu sehn. Man wird Euch sogleich zu essen bringen, sagte Tordesillas. Wir wollen hier zusammen speisen. Diese Kammer bestimme ich Euch zur Wohnung; Ihr werdet Euch hier wohler fühlen als in Eurem Kerker. Von Eurem Fenster aus könnt Ihr die blühenden Ufer des Eresma sehn und das köstliche Tal, das sich von den Bergen, die die beiden Kastilien trennen, bis Coca erstreckt. Wenn Ihr auch zunächst für die schöne Aussicht wenig empfänglich sein werdet, so wird es Euch später, wenn Euer heftiger Schmerz einer sanften Melancholie gewichen ist, doch Freude machen, den Blick über so heitere Gegenden schweifen zu lassen. Auch soll es Euch nicht an Wäsche und andern Dingen fehlen, die einem Menschen, der die Sauberkeit liebt, notwendig sind.

Durch so tröstliche Anerbietungen fühlte ich mich ein wenig erleichtert. Ich faßte Mut und dankte meinem Kerkermeister. Ich sagte ihm, er rufe mich durch seine Großmut ins Leben zurück und ich wünschte, ihm einst meinen Dank bezeigen zu können. Ach, weshalb solltet Ihr es nicht einmal können? erwiderte er. Glaubt Ihr, die Freiheit auf immer verloren zu haben? Wenn Ihr das meint, so seid Ihr im Irrtum, und ich kann Euch versichern, daß Ihr mit einigen Monaten Kerker davonkommen werdet. Was sagt Ihr, Herr Don[364] Andreo? rief ich. Es scheint, Ihr wißt den Grund meines Mißgeschicks? Ich will Euch gestehn, versetzte er, er ist mir nicht unbekannt. Der Alguasil, der Euch brachte, hat mir das Geheimnis erzählt, und ich kann es Euch offenbaren. Er sagte mir, der König hätte erfahren, der Graf von Lemos und Ihr hättet den Prinzen von Spanien zu einer verdächtigen Dame geführt, und den Grafen zur Strafe verbannt und Euch in den Turm von Segovia geschickt, wo Ihr mit aller Härte behandelt werden solltet. Wie ist diese Sache dem König zu Ohren gekommen? fragte ich darauf. Gerade darüber möchte ich aufgeklärt sein. Und gerade das, versetzte er, hat mir der Alguasil nicht gesagt; offenbar weiß er es selbst nicht.

Da brachten mehrere Diener unser Nachtmahl. Sie brachten Brot, zwei Becher, zwei Flaschen und drei große Schüsseln. Als Tordesillas sah, daß alles, was wir brauchten, da war, schickte er seine Bedienten fort, damit sie unser Gespräch nicht hörten. Er schloß die Tür, und wir setzten uns einander gegenüber. Beginnen wir, sagte er, mit dem Eiligsten. Ihr müßt nach zwei Tagen des Fastens Hunger haben. Und er füllte meinen Teller mit Fleisch. Er meinte einem Ausgehungerten aufzufüllen, und er hatte Grund zu dem Glauben, ich würde mich an seinen Ragouts gehörig sättigen; aber ich enttäuschte seine Erwartung. So nötig mir die Nahrung war, die Bissen blieben mir im Munde stecken, denn meine gegenwärtige Lage lastete mir auf dem Herzen. Er mochte mich noch so sehr zum Trinken ermuntern und mir seine Weine rühmen: hätte er mir Nektar gegeben, ich hätte ihn ohne Lust getrunken. Er merkte es und versuchte ein anderes Mittel: er begann, mir in lustigem Ton die Geschichte seiner Heirat zu erzählen; aber damit hatte er noch weniger Glück. Ich hörte ihm kaum zu. Schließlich stand er auf. Herr von Santillana, sagte er, ich will Euch ruhen oder vielmehr in Frieden über Euer Unglück grübeln lassen; aber ich wiederhole Euch, es wird nicht von langer Dauer sein. Der König[365] ist von Natur so gut. Wenn sein Zorn vorüber ist und er sich die elende Lage vorstellt, in der er Euch glaubt, so werdet Ihr ihm hart genug bestraft erscheinen. Damit stieg der Burgherr hinab und schickte die Diener herauf, damit sie abdeckten. Sie nahmen auch die beiden Leuchter mit fort, und ich ging beim düstern Schein einer Lampe, die an der Wand hing, zu Bett.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 362-366.
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