Zweites Kapitel

[114] Von dem Erstaunen, mit dem Gil Blas dem Hauptmann Rolando in Madrid begegnet, und von den merkwürdigen Dingen, die der Räuber ihm erzählte


Als Don Bernardo de Castil Blazo den Korregidor bis auf die Straße geleitet hatte, kehrte er schnell zurück, schloß seine Geldkiste und all die Türen, die sie schützten, und dann gingen wir aus, beide sehr zufrieden: er, weil er einen mächtigen Freund gewonnen hatte, ich, weil mir meine täglichen sechs Reale gesichert waren. Da ich Melendez gern von diesem[114] Abenteuer erzählen wollte, schlug ich den Weg nach seinem Hause ein; aber kurz bevor ich es erreichte, sah ich den Hauptmann Rolando. Mein Erstaunen, ihn hier zu treffen, war groß, und ich konnte bei seinem Anblick ein Zittern nicht unterdrücken. Er erkannte mich gleichfalls, sprach mich ernsthaft an und befahl mir, immer noch mit überlegener Miene, ihm zu folgen. Ich gehorchte zitternd, indem ich zu mir selber sagte: Ah! ohne Zweifel soll ich ihm alles zahlen, was ich ihm schuldig bin. Wohin wird er mich führen? Vielleicht hat er hier in der Stadt eine Höhle. Zum Henker! wenn ich es wüßte, ich zeigte ihm gleich, daß mir keine Gicht die Füße lähmt.

Rolando zerstreute meine Ängste bald. Er trat in eine berühmte Schenke, und ich folgte ihm. Er bestellte vom besten Wein und sagte dem Wirt, er solle uns eine Mahlzeit bereiten. Wir gingen in ein Zimmer hinüber, wo mir der Hauptmann, als er sich mit mir allein sah, folgende Rede hielt: Du wirst dich wundern, Gil Blas, deinem einstigen Anführer hier zu begegnen; und du wirst es noch mehr, wenn du hörst, was ich dir zu erzählen habe. An dem Tage, als ich dich in der Höhle zurückließ und mit all meinen Reitern aufbrach, um in Mansilla die Maultiere und Pferde zu verkaufen, die wir am Abend zuvor erbeutet hatten, begegneten wir dem Sohn des Korregidors von Leon; seinem Wagen folgten vier berittene und gut bewaffnete Leute. Zwei von diesen mußten ins Gras beißen, zwei entflohen. Da rief uns der Kutscher, der um seinen Herrn besorgt war, mit flehender Stimme zu: Ach! meine lieben Herren, im Namen Gottes, tötet nicht den einzigen Sohn des Herrn Korregidors von Leon! Diese Worte rührten meine Reiter nicht; im Gegenteil, sie erfüllten sie mit Wut. Meine Herren, rief einer von ihnen, den Sohn des größten Feindes unsrer Gilde dürfen wir uns nicht entgehen lassen. Wie vielen Leuten unsres Berufes hat sein Vater das Leben geraubt! Laßt uns sie rächen! Laßt uns ihren[115] Manen ein Opfer bringen! Die andern Reiter zollten ihm Beifall, und mein Leutnant schickte sich an, bei diesem Opfer als Hoherpriester zu dienen; da fiel ich ihm in den Arm. Halt! rief ich; weshalb wollt Ihr ohne Not Blut vergießen? Da er keinen Widerstand leistet, wäre es Barbarei, ihn zu schlachten. Er ist für die Taten seines Vaters nicht verantwortlich, und sein Vater tut nur seine Pflicht, wenn er uns zum Tode verurteilt, wie wir die unsre tun, wenn wir die Reisenden berauben.

Meine Hilfe blieb für den Sohn des Korregidors nicht erfolglos; wir nahmen ihm nur das Geld und die Pferde der beiden Getöteten ab und verkauften sie mit den andern in Mansilla. Dann kehrten wir zur Höhle zurück, die wir am andern Morgen kurz vor Tagesanbruch erreichten. Wir waren nicht wenig erstaunt, die Falltür offen zu finden, und mehr noch, als wir Leonharde in der Küche gefesselt erblickten. Sie klärte uns mit wenigen Worten auf. Als wir an deine Kolik dachten, mußten wir lachen: wir bewunderten dich, daß du uns hattest täuschen können. Nachdem wir die Köchin losgebunden hatten, gingen wir in den Stall, um unsre Pferde zu versorgen. Dort lag der alte Neger, der seit vierundzwanzig Stunden ohne Beistand war, in den letzten Zügen. Wir hätten ihm gern geholfen, aber er war besinnungslos. Das hinderte uns nicht, zu Tisch zu gehn, und nach einem reichlichen Frühstück zogen wir uns in unsre Zimmer zurück und ruhten uns den ganzen Tag lang aus. Als wir erwachten, sagte uns Leonharde, daß Domingo nicht mehr lebte. Wir trugen ihn in das Gewölbe und begruben ihn, als hätte er die Ehre gehabt, einer unsrer Kumpane zu sein.

Fünf oder sechs Tage darauf traf es sich, daß wir zu Beginn eines Streifzuges frühmorgens am Ausgang des Waldes drei Häscherbrigaden der heiligen Hermandad begegneten, die auf uns zu warten schienen. Wir bemerkten erst nur eine. Obgleich sie uns an Zahl überlegen war, griffen wir sie voll[116] Geringschätzung an; aber als wir mit ihr handgemein wurden, stürmten die beiden andern, die sich verborgen zu halten gewußt hatten, auf uns ein; so nützte uns all unsre Tapferkeit nichts. Zwei Reiter und unser Leutnant fielen. Die beiden andern und ich, wir wurden umringt und so hart bedrängt, daß die Häscher uns gefangennahmen. Und während uns zwei Brigaden nach Leon brachten, zerstörte die dritte unsern Unterschlupf, der auf folgende Weise verraten worden war. Ein Bauer aus Luceno hatte, als er durch den Wald nach Hause ging, die Falltür entdeckt, die du nicht geschlossen hattest. Er dachte sich, daß dort unsre Zuflucht sei. Er merkte sich die Gegend und ritzte mit seinem Messer von Zeit zu Zeit einen Baum, bis er den Wald im Rücken hatte. Dann ging er nach Leon und teilte dem Korregidor seine Entdeckung mit. Der Richter ließ drei Brigaden aufbieten, und der Bauer diente ihnen als Führer.

Mein Einzug in Leon war ein Schauspiel für alle Bewohner der Stadt. Wäre ich ein kriegsgefangener portugiesischer General gewesen, das Volk hätte sich nicht eifriger drängen können, um mich zu sehen. Das ist er, sagte man, das ist er, der berühmte Hauptmann, der Schrecken des Landes! Er verdiente, mit Zangen zerrissen zu werden, genau wie seine beiden Kumpane. Man führte uns vor den Korregidor, der mich alsbald beschimpfte. Nun? rief er, Schurke! der Himmel überliefert dich, der Verwilderung deines Lebens müde, meiner Justiz! Herr, gab ich zur Antwort, habe ich auch viele Verbrechen begangen, so habe ich mir wenigstens den Tod Eures Sohnes nicht vorzuwerfen! Dafür schuldet Ihr mir einigen Dank. Was! Elender, rief er aus, bei Leuten deines Schlages ist es gerade angebracht, Großmut walten zu lassen. Und wollte ich dich auch retten, die Pflicht meines Amtes verböte es mir. Er ließ uns in einen Kerker sperren, wo meine Kumpane nicht lange zu schmachten hatten. Man holte sie nach drei Tagen und ließ sie auf dem großen Marktplatz eine[117] traurige Rolle spielen. Ich aber blieb drei volle Wochen im Gefängnis. Ich begann zu glauben, man schiebe meine Strafe nur auf, um sie desto furchtbarer zu gestalten, und ich machte mich schließlich auf eine ganz neue Todesart gefaßt, als der Korregidor mich eines Tages vorführen ließ und zu mir sagte: Höre deinen Spruch! Du bist frei. Ohne dich wäre mein einziger Sohn auf der Landstraße umgebracht worden. Ich habe an den Hof geschrieben und um deine Begnadigung gebeten; ich habe sie erhalten. Geh also, wohin du willst. Aber, fügte er hinzu, ich rate dir, die glückliche Wendung auszunutzen. Geh in dich und gib das Räuberleben auf.

Diese Worte ergriffen mich, und ich schlug mit dem Entschluß, mein Leben zu ändern, die Straße nach Madrid ein, um da ein ruhiges Leben zu führen. Mein Vater und meine Mutter waren inzwischen hier gestorben, und ich fand ihren Nachlaß in den Händen eines alten Verwandten, der mir getreulich Rechenschaft ablegte. Um dem Müßiggang zu entgehn, habe ich mir das Amt eines Alguasils gekauft, das ich ausübe, als hätte ich mein Leben lang nichts andres getan. Meine Kollegen hätten sich aus Schicklichkeitsgefühl meiner Aufnahme widersetzt, wenn sie meine Geschichte gekannt hätten. Zum Glück kennen sie sie nicht, oder tun doch so, was auf dasselbe hinausläuft; denn in dieser ehrenwerten Körperschaft hat jeder ein Interesse daran, sein Tun und Lassen zu verbergen. Zum Teufel mit dem, der besser ist! Indessen, mein Freund, fuhr Rolando fort, ich will dir mein Innerstes enthüllen. Mein Beruf ist nicht gerade nach meinem Geschmack: man kann in ihm nur heimlichen, verstohlenen Trug ausüben. Ach, ich sehne mich nach meinem alten Handwerk zurück. Freilich ist man in meinem neuen sicherer; aber das alte war lustiger, und ich liebe die Freiheit. Ich möchte mein Amt losschlagen und eines schönen Morgens in die Berge an den Tajoquellen ziehn; ich weiß, dort wohnt eine zahlreiche Truppe in einem Schlupfwinkel. Wenn du[118] mich begleiten willst, gehen wir hin und erhöhen die Zahl dieser großen Männer. Ich werde in ihrer Kumpanei zweiter Hauptmann werden; und damit sie dich gut aufnehmen, werde ich sagen, ich hätte dich zehnmal an meiner Seite kämpfen sehn. Ich werde dich bis in die Wolken erheben und mich hüten, von deinem Gaunerstreich zu reden: sonst wärest du ihnen verdächtig. Nun? fragte er, bist du bereit, mir zu folgen? Ich warte auf deine Antwort.

Jeder hat seine Neigungen, sagte ich zu Rolando: Ihr seid zu kühnen Unternehmungen geboren, ich für ein stilles und ruhiges Leben. Ich verstehe, unterbrach er; die Dame, die Ihr aus Liebe entführt habt, liegt Euch noch am Herzen, und ohne Zweifel führt Ihr in Madrid das stille Leben, das Ihr liebt. Gebt es zu, Herr Gil Blas, Ihr habt es der Dame behaglich eingerichtet, und Ihr verzehrt jetzt zusammen die Pistolen, die Ihr aus der Höhle mitnahmt. Ich sagte ihm, er sei im Irrtum, und ich wollte ihm während des Essens meine Abenteuer erzählen; was ich denn auch wirklich tat. Und als er sah, daß er mich nicht zu seiner Lebensweise überreden konnte, änderte er plötzlich Haltung und Ton. Er sah mich hochmütig an und sagte sehr ernsthaft: Da du niedrig genug gesinnt bist, deine dienende Stellung der ehrenden Zugehörigkeit zu einer Kumpanei wackerer Leute vorzuziehen, so überlasse ich dich der Gemeinheit deiner Neigungen. Aber höre, was ich dir sagen will; grabe dir meine Worte ins Gedächtnis ein! Vergiß, daß du mir heute begegnet bist, und unterhalte dich niemals mit irgend jemandem über mich; denn wenn ich erfahre, daß du mich in deine Reden hineinziehst – du kennst mich! mehr sage ich dir nicht. Mit diesen Worten rief er den Wirt, bezahlte die Zeche, und wir standen vom Tisch auf, um zu gehn.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 114-119.
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