Erstes Kapitel

[461] Gil Blas wird vom Minister nach Toledo geschickt. Zweck und Erfolg seiner Reise


Schon seit fast einem Monat sagte Seine Exzellenz fast jeden Tag zu mir: Santillana, es kommt die Zeit, da ich deiner Geschicklichkeit zu tun geben will; und diese Zeit kam lange nicht. Schließlich aber kam sie doch, und der Minister sagte mir endlich folgendes: Man sagt, es gebe in der Schauspielertruppe zu Toledo eine junge Schauspielerin, die durch ihre Talente Aufsehen errege; man behauptet, sie tanze und singe göttlich und sie reiße durch ihre Deklamation die Zuschauer fort; man versichert sogar, sie sei schön. Ein solches Wesen verdient wohl, bei Hofe zu erscheinen. Der König liebt das Schauspiel, die Musik und den Tanz; er darf nicht das Vergnügen entbehren, eine Person von so seltenem Verdienst zu sehen und zu hören. Ich habe also beschlossen, dich nach Toledo zu schicken, um durch dich ein Urteil darüber zu bekommen, ob sie wirklich eine so wunderbare Schauspielerin ist. Ich werde mich an den Eindruck halten, den sie auf dich macht; ich verlasse mich auf dein Verständnis.

Ich antwortete Seiner Exzellenz, ich würde ihr getreu Bericht erstatten, und ich schickte mich an, mit einem einzigen Lakaien zu reisen, den ich, um die Dinge heimlicher zu gestalten, noch die Livree des Ministers ablegen ließ, was sehr nach dem Geschmack Seiner Gnaden war. Ich machte mich also nach Toledo auf, wo ich bei meiner Ankunft in einem Gasthof nahe beim Schloß abstieg. Kaum war ich abgesessen[461] so sagte der Wirt, der mich zweifellos für einen Landedelmann hielt: Herr Kavalier, Ihr kommt offenbar in diese Stadt um die erhabene Zeremonie des Autodafés zu sehn, die morgen stattfindet. Ich bejahte; denn ich hielt es für geratener, ihn in seinem Glauben zu lassen, als ihm Gelegenheit zu geben, mich des weiteren danach auszufragen, was mich nach Toledo führte. Ihr werdet, erwiderte er, eine der schönsten Prozessionen sehn, die man je veranstaltet hat; es sind, so sagt man, mehr als hundert Gefangene da, unter denen man mehr als zehn zählt, die verbrannt werden sollen.

Wirklich hörte ich am Tage darauf schon vor Sonnenaufgang alle Glocken läuten, um das Volk zu benachrichtigen, daß man das Autodafé beginnen wollte. Da ich auf dies grausame Fest, das ich noch nicht gesehn hatte, neugierig war, zog ich mich eilig an und begab mich zur Inquisition. Ringsherum und an allen Straßen hin, durch die die Prozession kommen mußte, waren Gerüste errichtet, auf deren einem ich für mein Geld Platz nahm. Bald bemerkte ich die Dominikaner, die den Aufzug führten, mit dem Banner der Inquisition. Den frommen Vätern folgten unmittelbar die traurigen Opfer, die das Heilige Amt an diesem Tage darbringen wollte. Die Unglücklichen zogen barfuß und bloßen Hauptes einer hinter dem andern her, eine Kerze in der Hand und neben sich den Todespaten. Die einen trugen ein großes Skapulier aus gelber Leinwand, besetzt mit roten Sankt Andreas-Kreuzen, benannt das San Benito; die andern trugen Carochas, Mützen aus Pappe in der Form eines Zuckerhuts, bedeckt mit Flammen und Teufelsfratzen.

Als ich diese Unglücklichen mit einem Mitleid ansah, das ich zu zeigen mich hütete, aus Furcht, man könnte mir ein Verbrechen daraus machen, glaubte ich unter denen, deren Köpfe die Carochas trugen, den Einsiedler Don Raphael und seinen Genossen, den Bruder Ambrosio, zu erkennen. Sie kamen so nahe an mir vorbei, daß ich, als jeder Irrtum ausgeschlossen[462] war, in meinem Innern sagte: Was sehe ich! Also hat der Himmel, der Missetaten dieser beiden Verbrecher müde, sie endlich doch der Strafe der Inquisition überliefert? Und zugleich fühlte ich mich vom Grauen ergriffen; ich begann am ganzen Leibe zu zittern, und meine Sinne verwirrten sich so, daß ich ohnmächtig zu werden glaubte. Mein Bund mit diesen Schelmen, das Abenteuer von Xelva, kurz alles, was wir zusammen getan hatten, trat mir in diesem Augenblick vor Augen, und ich glaubte, Gott nicht genügend danken zu können, daß er mich vor dem Skapulier und der Carocha bewahrt hatte.

Als die Zeremonie zu Ende war, kehrte ich in meinen Gasthof zurück. Ich zitterte noch von dem gräßlichen Erlebnis, das ich gehabt hatte; aber die traurigen Bilder, von denen mein Geist erfüllt war, verblichen allmählich, und ich dachte nur noch daran, mich meines Auftrags nach bestem Können zu entledigen. Voll Ungeduld erwartete ich die Stunde des Schauspiels, denn das wollte ich mir zunächst ansehen; und sowie sie gekommen war, ging ich ins Theater, wo ich neben einem Ritter von Alcantara Platz nahm. Bald hatte ich eine Unterhaltung mit ihm angeknüpft. Herr Ritter, sagte ich, ist es einem Fremden erlaubt, eine Frage an Euch zu richten? Herr Kavalier, erwiderte er sehr höflich, es wird eine Ehre für mich sein. Man hat mir, fuhr ich fort, die Komödianten von Toledo gerühmt: hätte man mir zu Unrecht Gutes von ihnen gesagt? Nein, versetzte der Kavalier, ihre Truppe ist nicht schlecht; sie besitzt sogar Größen: Ihr werdet unter andern die schöne Lukretia sehn, eine Schauspielerin von vierzehn Jahren, die Euch in Erstaunen setzen wird. Ich werde Euch, wenn sie sich auf der Bühne zeigt, nicht erst auf sie aufmerksam zu machen brauchen; Ihr werdet sie leicht erkennen. Ich fragte den Kavalier, ob sie heute spielen würde. Er bejahte und fügte hinzu, sie habe sogar in dem Stück, das man geben werde, eine glänzende Rolle.[463]

Das Schauspiel begann. Es traten zwei Schauspielerinnen auf, die nichts vernachlässigt hatten, was sie reizend machen konnte; aber trotz des Glanzes ihrer Diamanten hielt ich sie beide nicht für die, die ich erwartete. Endlich trat diese schöne Lukretia aus den Kulissen, und ihr Erscheinen wurde durch ein langes und allgemeines Händeklatschen angekündigt. Ah! das ist sie, sagte ich bei mir selber: Welcher Adel! welche Anmut! welch schöne Augen! welch reizvolles Geschöpf! Wirklich war ich sehr mit ihr zufrieden, vielmehr ihr Äußeres machte lebhaften Eindruck auf mich. Vom ersten Vers an, den sie rezitierte, fand ich sie natürlich, feurig und intelligenter als sonst die Mädchen in ihren Jahren; und gern mischte ich meinen Beifall in den, der ihr von der ganzen Zuhörerschaft gespendet wurde. Nun, sagte der Ritter, Ihr seht, wie Lukretia beim Publikum steht. Es wundert mich nicht, erwiderte ich. Es wird Euch noch weniger wundern, versetzte er, wenn Ihr sie singen hört: sie ist eine Sirene. Weh denen, die sie hören, ohne wie Ulysses Vorsorge getroffen zu haben! Ihr Tanz, fuhr er fort, ist nicht weniger gefährlich; ihre Schritte, verderblich wie ihre Stimme, bezaubern die Augen und zwingen die Herzen zur Übergabe. Wenn dem so ist, rief ich aus, so muß man gestehn, sie ist ein Wunder! Welcher glückliche Sterbliche hat das Vergnügen, sich für ein so reizendes Mädchen zu ruinieren? Sie hat keinen erklärten Liebhaber, sagte er, und selbst die Bosheit schreibt ihr nicht einmal eine heimliche Intrige zu: freilich, fügte er hinzu, könnte sie doch eine spinnen; denn Lukretia steht unter der Obhut ihrer Tante Estella, die ohne Widerspruch die geschickteste aller Komödiantinnen ist.

Beim Namen Estella unterbrach ich den Ritter eifrig und fragte, ob diese Estella eine Schauspielerin der Toledanischen Truppe sei. Eine der besten, erwiderte er. Sie hat heute nicht gespielt, und das war schade; sie spielt gewöhnlich die Zofe, und diese Rolle stellt sie wunderbar dar. Wieviel Geist sie in[464] ihr Spiel legt! Vielleicht sogar zuviel; aber das ist ein schöner Fehler, der Gnade finden muß. Der Ritter erzählte mir Wunder von dieser Estella, und nach dem Bild, das er mir von ihr entwarf, zweifelte ich nicht mehr, daß es Laura war, dieselbe Laura, von der ich in meiner Geschichte so oft gesprochen habe und die ich in Granada verlassen hatte.

Um sicher zu gehn, begab ich mich nach der Vorstellung hinter die Bühne. Ich fragte nach Estella; und als ich sie überall mit den Augen suchte, fand ich sie in den Gängen, wo sie sich mit einigen Edelleuten unterhielt, die vielleicht nur Lukretias Tante in ihr sahen. Ich trat auf sie zu, um sie zu begrüßen; aber sei es aus Laune, sei es, um mich für meine überstürzte Flucht aus Granada zu strafen: sie tat, als kennte sie mich nicht, und nahm meine Höflichkeiten so kühl auf, daß ich ein wenig die Fassung verlor. Statt ihr lachend ihren eisigen Empfang zu verweisen, war ich dumm genug, mich darüber zu ärgern; ich zog mich sogar unvermittelt zurück und beschloß in meinem Zorn, gleich folgenden Tages nach Madrid zurückzukehren. Ich will mich an Laura rächen, sagte ich mir, ihre Nichte soll nicht die Ehre haben, vor dem König zu erscheinen; zu dem Zweck brauche ich dem Minister von Lukretia nur ein Bild nach Belieben zu entwerfen; ich brauche ihm nur zu sagen, sie tanze ohne Anmut, ihre Stimme sei scharf, ihre Reize beständen nur in ihrer Jugend, und ich bin sicher, Seine Exzellenz denkt nicht mehr daran, sie an den Hof zu ziehn.

Das war die Rache, die ich mir wegen Lauras Verhalten vornahm; aber mein Groll war nicht von langer Dauer. Als ich am folgendem Tage zum Aufbruch rüstete, trat ein kleiner Lakai zu mir ins Zimmer und sagte: Hier ist ein Billett, das ich dem Herrn von Santillana überbringen soll. Der bin ich, mein Junge, erwiderte ich, indem ich ihm den Brief abnahm und ihn öffnete; er enthielt die folgenden Worte: ›Vergeßt die Art, wie Ihr gestern abend im Theater hinter den Kulissen[465] empfangen wurdet, und laßt Euch von dem Überbringer führen.‹ Ich folgte alsbald dem kleinen Lakaien, der mich ganz nahe beim Theater in ein schönes Haus führte, wo ich Laura in einem sehr anständigen Gemach bei der Toilette vorfand. Sie stand auf, um mich zu umarmen, und sagte: Herr Gil Blas, ich weiß wohl, Ihr habt Grund, mit Eurem Empfang, als Ihr mich gestern in unserm Theater begrüßtet, unzufrieden zu sein: ein alter Freund wie Ihr hatte das Recht, eine artigere Aufnahme zu erwarten; aber ich will Euch zu meiner Entschuldigung sagen, daß ich in schlechtester Laune war. Als Ihr mir vor die Augen kamt, beschäftigten sich meine Gedanken gerade mit gewissen bösen Reden, die einer unsrer Herren über meine Nichte in Umlauf gesetzt hat, deren Ehre mich mehr interessiert als meine. Euer jäher Rückzug, fügte sie hinzu, machte mich erst auf meine Zerstreutheit aufmerksam, und sofort schickte ich, um Eure Wohnung zu erfahren und um heute meinen Fehler wieder gutzumachen, meinen Lakaien hinter Euch her. Der Fehler ist schon wieder gutgemacht, sagte ich, meine teure Laura; reden wir nicht mehr davon. Lieber wollen wir einander erzählen, was uns seit dem Unglückstage begegnet ist, an dem mich die Furcht vor gerechter Züchtigung aus Granada vertrieb. Ich ließ Euch, wenn Ihr Euch entsinnt, in großer Verlegenheit zurück: wie habt Ihr Euch herausgezogen? Trotz all Eurem Scharfsinn, das gebt zu, dürfte das nicht leicht gewesen sein. Bedurftet Ihr nicht Eurer ganzen Geschicklichkeit, Euren portugiesischen Liebhaber zu beruhigen? Durchaus nicht, erwiderte Laura; wißt Ihr nicht, daß die Männer in solchen Fällen schwach genug sind, den Frauen bisweilen selbst die Mühe der Rechtfertigung zu ersparen?

Ich hielt, fuhr sie fort, dem Marquis von Marialva gegenüber die Behauptung, du seiest mein Bruder, aufrecht. Verzeiht mir, Herr von Santillana, wenn ich so vertraulich wie früher rede; aber ich kann meine alten Gewohnheiten nicht[466] ablegen. Ich will dir also sagen, daß ich die Beleidigte spielte. Seht Ihr denn nicht, sagte ich zu dem portugiesischen Herrn, daß dies alles das Werk der Eifersucht und Raserei ist? Narcissa, meine Kollegin und Rivalin, hat mir aus Wut darüber, daß ich in Ruhe ein Herz besitze, das ihr entging, diesen Streich gespielt, den ich ihr verzeihe, denn es ist am Ende natürlich, wenn eine eifersüchtige Frau sich rächt. Sie hat den Lichtputzergehilfen bestochen, der, um ihrem Groll zu dienen, dreist genug ist, zu sagen, er habe mich in Madrid als Zofe Arsenias gesehn. Nichts könnte unwahrer sein: die Witwe Don Antonio Coellos ist von je zu hohen Sinnes gewesen, als daß sie bei einem Theatermädchen in Dienst hätte treten mögen. Übrigens beweist meines Bruders überstürzter Aufbruch die Unwahrheit dieser Anklage und das Komplott meiner Ankläger: wäre er zugegen, so könnte er die Verleumdung widerlegen; aber Narcissa hat zweifellos ein neues Kunststück angewendet, um ihn zu entfernen.

Obgleich diese Gründe, fuhr Laura fort, mich nicht allzusehr entlasteten, war der Marquis so freundlich, sich mit ihnen zu begnügen; und der gutmütige Edelmann liebte mich weiter, bis er von Granada aufbrach, um nach Portugal zurückzukehren. Freilich erfolgte sein Aufbruch bald nach dem deinen, und Zapatas Frau hatte das Vergnügen, daß auch ich den Liebhaber verlor, den ich ihr entführt hatte. Ich blieb noch eine Zeitlang in Granada; da sich dann aber in unsrer Truppe Zank erhob, was unter uns bisweilen vorkommt, so trennten sich alle Komödianten: die einen gingen nach Sevilla, die andern nach Cordova, ich nach Toledo, wo ich seit zehn Jahren mit meiner Nichte Lukretia wohne, die du gestern abend hast spielen sehn, da du im Schauspiel warst.

Hier konnte ich mich nicht enthalten zu lachen. Laura fragte nach dem Grund. Erratet Ihr ihn nicht? fragte ich. Ihr habt weder Bruder noch Schwester. Ihr könnt also nicht Lukretias Tante sein. Wenn ich zudem die Zeit berechne, die seit[467] unsrer letzten Trennung verstrichen ist, so scheint mir, Ihr könntet noch näher verwandt sein.

Ich verstehe Euch, Herr Gil Blas, erwiderte Don Antonios Witwe unter leichtem Erröten; wie Ihr doch die Zeit im Kopf habt! Euch kann man nichts weismachen. Nun also! ja, mein Freund, Lukretia ist des Marquis von Marialva und meine Tochter: sie ist die Frucht unsres Bundes, ich kann es dir nicht länger verbergen. Welche Überwindung es Euch kostet, meine Prinzessin, sagte ich, mir dies Geheimnis zu entschleiern! Aber ich will Euch sagen, Lukretia ist ein Wesen von so sonderbarem Reiz, daß Euch das Publikum für diese Gabe gar nicht dankbar genug sein kann. Es wäre zu wünschen, die Gaben all Eurer Kolleginnen wären nicht geringer.

Wenn irgendein boshafter Leser, der sich hier meiner heimlichen Zusammenkünfte mit Laura entsinnt, als ich in Granada Sekretär des Marquis von Marialva war, meinen sollte, ich hätte diesem Edelmann die Ehre, Lukretias Vater zu sein, streitig machen können, so muß ich ihm zu meiner Schande gestehn, daß sein Verdacht unbegründet ist.

Nunmehr berichtete ich meinerseits Laura über meine wichtigsten Abenteuer und über den gegenwärtigen Stand meiner Angelegenheiten. Sie hörte meine Erzählung mit einer Aufmerksamkeit an, die verriet, daß sie ihr nicht gleichgültig war. Freund Santillana, sagte sie, als ich geendet hatte, Ihr spielt nach allem, was ich sehe, eine recht schöne Rolle auf dem Theater der Welt: Ihr glaubt nicht, wie sehr mich das freut. Wenn ich Lukretia einmal nach Madrid bringe, damit sie in die königliche Truppe eintritt, so schmeichle ich mir, wird sie im Herrn von Santillana einen mächtigen Gönner finden. Zweifelt nicht daran, erwiderte ich; Ihr könnt auf mich zählen: ich werde Eure Tochter und Euch in der königlichen Truppe unterbringen, wenn Ihr wollt; das kann ich Euch versprechen, ohne meine Macht allzusehr zu überschätzen. Ich würde Euch beim Wort nehmen, erwiderte Laura,[468] und morgen schon nach Madrid aufbrechen, wenn ich nicht durch Verträge an die Truppe hier gebunden wäre. Ein königlicher Befehl hebt Eure Verträge auf, versetzte ich; ich übernehme das; Ihr sollt ihn haben, ehe acht Tage vergangen sind. Ich mache mir ein Vergnügen daraus, Lukretia den Toledanern zu entführen: eine so hübsche Schauspielerin ist wie geschaffen für die Hofleute; sie gehört uns von Rechts wegen an.

Eben jetzt trat Lukretia ein. Ich glaubte, die Göttin Hebe zu sehn, so reizend und anmutig war sie. Sie war gerade aufgestanden, und ihre natürliche Schönheit, die ohne die Hilfe der Kunst zu blenden wußte, zeigte den Augen ein hinreißendes Wesen. Kommt, meine Nichte, sagte ihre Mutter, dankt dem Herrn für sein Wohlwollen: er ist ein alter Freund von mir; er hat viel Einfluß bei Hofe, und er macht sich anheischig, uns beide in die königliche Truppe zu bringen. Diese Worte schienen dem Mädchen große Freude zu bereiten; sie machte mir eine tiefe Verbeugung und sagte mit bezauberndem Lächeln: Ich sage Euch demütigen Dank für Eure liebenswürdige Absicht; aber, gnädiger Herr, ich weiß nicht, ob sie mir nicht zum Schaden ausschlagen wird. Wenn Ihr mich einem Publikum nehmt, das mich liebt, seid Ihr auch sicher, daß ich in Madrid nicht mißfallen werde? Ich werde bei dem Tausch vielleicht verlieren. Ich habe von meiner Tante gehört, daß sie Schauspieler hat in einer Stadt glänzen und in einer andern nur Ärgernis erregen sehn: das macht mir bange; hütet Euch, mich der Verachtung des Hofes und Euch Vorwürfen auszusetzen. Schöne Lukretia, erwiderte ich, das brauchen wir beide nicht zu besorgen: ich fürchte vielmehr, Ihr werdet alle Herzen entflammen und so eine Ursache der Entzweiung unter unsern Großen sein. Die Angst meiner Nichte, sagte Laura, ist besser begründet als die Eure; aber ich hoffe, beide Befürchtungen werden eitel sein; wenn Lukretia durch ihre Reize kein Aufsehn erregen[469] kann, so ist sie dafür keine so schlechte Schauspielerin, daß man sie verachten dürfte.

Wir setzten diese Unterhaltung noch eine Weile fort, und ich sah aus allem, was Lukretia sprach, daß sie ein Mädchen von überlegenem Geist war. Dann nahm ich Abschied von den beiden Damen, indem ich ihnen beteuerte, sie würden unverzüglich einen königlichen Befehl erhalten, nach Madrid zu kommen.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 461-470.
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