Zehntes Kapitel

[494] Der Graf-Herzog wird plötzlich traurig und träumerisch. Von dem erstaunlichen Anlaß seiner Trauer und ihren argen Folgen


Um einigen Wechsel in seine Tätigkeit zu bringen, vergnügte sich der Graf-Herzog bisweilen auch damit, seinen Garten zu pflegen. Eines Tages, als ich ihm bei der Arbeit zusah, sagte er scherzend: Du siehst, Santillana, einen vom Hof verbannten Minister, der in Loeches zum Gärtner geworden ist. Gnädiger Herr, erwiderte ich im selben Ton, ich meine Dionys von Syrakus als Schulmeister in Korinth zu sehn. Mein Herr lächelte über die Antwort und nahm mir den Vergleich nicht übel.

Wir waren im Schlosse alle erfreut, daß der Herr, über sein Mißgeschick erhaben, in einem von dem früheren so verschiedenen Leben Reize entdeckte, als wir plötzlich zu unserm[494] Schmerz bemerkten, daß er sich zusehends verwandelte. Er wurde finster, träumerisch und versank in tiefe Melancholie. Er spielte nicht mehr mit uns und schien für alles, was wir zu seiner Unterhaltung erfanden, unempfänglich. Nach dem Mittagessen schloß er sich in seinem Kabinett ein, und dort blieb er bis zum Abend ganz allein. Wir dachten uns, seine Trauer komme von Gedanken an seine vergangene Größe, und in dieser Meinung schickten wir ihm den Dominikanerpater auf die Spur, dessen Beredsamkeit jedoch seine Melancholie nicht zu besiegen vermochte, die sich vielmehr fortwährend zu steigern schien.

Es kam mir in den Sinn, die Trauer des Ministers könnte einen besondern Anlaß haben, den er nicht nennen wollte, und so beschloß ich, ihm sein Geheimnis zu entreißen. Zu dem Zweck spähte ich nach dem Augenblick aus, in dem ich ihn ohne Zeugen sprechen konnte; und als ich ihn gefunden hatte, sagte ich halb ehrfürchtig, halb liebevoll: Gnädiger Herr, ist es Gil Blas erlaubt, seinem Herrn eine Frage zu stellen? Du darfst reden, erwiderte er, ich erlaube es dir. Was ist, fuhr ich fort, aus der Zufriedenheit geworden, die auf dem Gesicht Eurer Exzellenz zu sehen war? Hättet Ihr nicht mehr die alte Herrschaft über das Schicksal? Sollte der Verlust der königlichen Gunst neue Trauer in Euch wecken? Wäret Ihr wieder in jenen Abgrund des Kummers getaucht, aus dem Euch Eure Mannhaftigkeit emporgezogen hatte? Nein, dem Himmel sei Dank, versetzte der Minister, ich denke nicht mehr an die Rolle, die ich bei Hofe gespielt habe, und auf immer habe ich die mir dort erwiesenen Ehren vergessen. Ach! weshalb also, fuhr ich fort, wenn Ihr die Kraft habt, dies alles aus Eurem Gedächtnis auszulöschen, weshalb seid Ihr da schwach genug, Euch einer Melancholie zu überlassen, die uns alle beängstigt? Was habt Ihr, mein teurer Herr? fuhr ich fort, indem ich mich ihm zu Füßen warf; ohne Zweifel verzehrt Euch ein geheimer Gram; könnt Ihr Santillana[495] ein Geheimnis daraus machen, während Ihr seine Verschwiegenheit, seinen Eifer und seine Treue kennt? Durch welches Unglück habe ich Euer Vertrauen verloren?

Du besitzest es immer noch, sagte der Minister, aber ich will dir gestehn, es widerstrebt mir, dir zu offenbaren, was die Trauer, in die du mich versunken siehst, veranlaßt; doch kann ich den Bitten eines Dieners und Freundes, wie du es bist, nicht widerstehn. Erfahre also, was meinen Schmerz ausmacht; allein Santillana kann ich mich entschließen, es anzuvertrauen. Ja, fuhr er fort, ich bin das Opfer einer tiefen Schwermut, die allmählich meine Lebenskraft verzehrt: ich sehe fortwährend ein Gespenst, das sich mir in einer grauenhaften Gestalt zeigt. Ich mag mir noch so oft sagen, es sei nur eine Täuschung, ein Phantom ohne Wirklichkeit: seine beständigen Erscheinungen schmerzen mein Auge und beunruhigen mich. Obwohl ich stark genug bin, mir zu sagen, wenn ich dies Gespenst sehe, so sehe ich nichts, so bin ich doch auch schwach genug, mich über diese Vision zu grämen. Das ist es, was du mich zu sagen gezwungen hast, fügte er hinzu; nun sage selbst, ob ich unrecht tue, die Ursache meiner Melancholie aller Welt zu verbergen.

Ich hörte etwas so Ungewöhnliches, das auf eine Störung im Organismus schließen ließ, mit ebensoviel Schmerz wie Staunen. Gnädiger Herr, sagte ich, käme das nicht vielleicht davon, daß Ihr zu wenig Nahrung zu Euch nehmt? Denn Eure Enthaltsamkeit ist übertrieben. Das habe ich auch erst gedacht, erwiderte er, und um zu erproben, ob es an meiner schmalen Kost liegt, esse ich schon seit einigen Tagen mehr als gewöhnlich; aber das alles ist vergeblich, das Phantom verschwindet nicht. Es wird verschwinden, erwiderte ich, um ihn zu trösten; und wenn Eure Exzellenz sich ein wenig zerstreuen wollte, indem sie wieder mit ihren treuen Dienern spielte, so glaube ich, wäre sie schnell von ihren Sinnestäuschungen befreit.[496]

Bald nach dieser Unterhaltung wurde der Minister krank; und da er fühlte, daß es ernst wurde, ließ er zwei Notare aus Madrid holen, um sein Testament zu machen. Er ließ auch drei berühmte Ärzte rufen, von denen man behauptete, sie heilten ihre Kranken bisweilen. Als sich das Gerücht von ihrer Ankunft im Schloß verbreitete, hörte man nur noch Klagen und Jammern; jetzt sah man den Tod des Herrn als nahe bevorstehend an, so sehr war man gegen diese Herren eingenommen. Sie hatten einen Apotheker und einen Chirurgen mitgebracht, die üblichen Vollstrecker ihrer Verordnungen. Sie ließen zunächst die Notare ihres Amtes walten und schickten sich dann an, das ihrige zu tun. Da sie den Prinzipien des Doktors Sangrado folgten, so verordneten sie gleich bei der ersten Konsultation Aderlaß auf Aderlaß, so daß sie den Grafen-Herzog in sechs Tagen von allem überflüssigen Blut und am siebenten von seiner Vision befreit hatten.

Nach dem Tode des Ministers herrschte im Schloß von Loeches heftiger und aufrichtiger Schmerz. Alle seine Diener beweinten ihn bitter. Statt sich über seinen Verlust mit der Gewißheit zu trösten, daß sie in seinem Testament nicht vergessen waren, gab es unter ihnen nicht einen, der nicht gern auf sein Legat verzichtet hätte, um ihn ins Leben zurückzurufen. Ich, den er am meisten geliebt und der ich aus reiner Neigung an ihm gehangen hatte, war tiefer als alle anderen ergriffen. Ich zweifle, daß Antonio mich mehr Tränen gekostet hat als der Graf-Herzog.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 494-497.
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