Fünfzehntes Kapitel

[57] Welchen Entschluß Gil Blas nach dem Abenteuer im Logierhaus faßte


Als ich, sehr nutzloserweise, mein Unglück genügend beklagt hatte, überlegte ich mir, daß ich, statt meinem Kummer nachzugeben, vielmehr meinem schlimmen Lose Trotz bieten müsse. Ich machte mir Mut und sagte mir, um mich[57] zu trösten, als ich mich anzog: Ich habe noch Glück, daß die Schelme wenigstens meine Kleider und die paar Dukaten, die ich in den Taschen hatte, nicht mitgenommen haben. Diese Mäßigung rechnete ich ihnen hoch an. Sie waren sogar großmütig genug gewesen, mir meine Stiefel zu lassen, die ich dem Wirt um ein Drittel des gezahlten Preises verkaufte. Als ich das Logierhaus verließ, brauchte ich, Gott sei Dank, niemanden mehr, der mir mein Gepäck trüge. Zunächst wollte ich nachsehn, ob etwa meine Maultiere noch in dem Gasthof waren, in dem ich am Tage zuvor abgestiegen war. Ich dachte mir gleich, Ambrosio würde sie schwerlich dort gelassen haben, und wollte Gott, ich hätte ihn von Anfang an so richtig beurteilt! Man sagte mir, er hätte sie noch am Abend abgeholt. Ich fand mich also darein, weder sie noch mein teures Felleisen jemals wiederzusehn, und irrte traurig durch die Straßen, indem ich darüber nachsann, was ich nun beginnen sollte. Ich war in Versuchung, nach Burgos zurückzukehren und nochmals meine Zuflucht zu Doña Mencia zu nehmen; aber in der Erwägung, daß ich die Güte dieser Dame dadurch mißbrauchen würde, gab ich den Gedanken auf. Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick auf meinen Ring. Ach! sagte ich zu mir selber, in Rubinen kenne ich mich nicht aus, aber ich kenne die Leute, die sie vertauschen. Ich glaube, ich brauche nicht erst zu einem Juwelier zu gehen, um zu erfahren, daß ich ein Dummkopf bin.

Immerhin wollte ich mich doch über den Wert meines Ringes vergewissern und zeigte ihn einem Steinschneider, der ihn auf drei Dukaten schätzte. Ich wünschte die Nichte des Gouverneurs der Philippinen zu allen Teufeln. Als ich aus dem Laden des Steinschneiders auf die Straße trat, ging ein junger Mann an mir vorüber, der plötzlich stehenblieb und mich ansah. Ich wußte nicht gleich, wer er war, obgleich ich ihn kannte. Wie, Gil Blas, sagte er, tut Ihr, als wüßtet Ihr nicht, wer ich bin? Oder haben zwei Jahre den Sohn des[58] Bartscherers Nunez so sehr verändert, daß Ihr ihn nicht erkennt? Entsinnt Euch Fabricios, Eures Landsmanns und Schulkameraden!

Ich hatte ihn schon erkannt, ehe er noch zu Ende gesprochen hatte, und wir umarmten uns recht herzlich. Ach, mein Freund, rief er, wie entzückt bin ich, daß ich dich treffe! Ich kann dir nicht sagen, wie ich mich freue ... Aber, fuhr er erstaunt fort, in welchem Aufzuge bietest du dich meinen Blicken dar? Gelobt sei Gott! du gehst gekleidet wie ein Prinz! Ein schöner Degen, seidene Strümpfe, Samtwams und Mantel mit Silber bestickt! Zum Henker! das riecht verteufelt nach Glück bei den Frauen. Ich wette, ein altes, freigebiges Weib läßt dich an ihrem Reichtum teilnehmen. Du täuschst dich, sagte ich, meine Lage ist nicht so glänzend, wie du dir denkst. Possen! rief er, Possen! Du willst den Verschwiegenen spielen! Und der schöne Rubin an deinem Finger, Gil Blas, woher hast du den, wenn ich fragen darf? Den habe ich, gab ich zur Antwort, von einer Erzhalunkin. Fabricio, teurer Fabricio, statt bei den Frauen von Valladolid Hahn im Korbe zu sein, werde ich von ihnen betrogen.

Ich sprach diese Worte so traurig, daß Fabricio wohl erriet, man habe mir einen Streich gespielt. Er drängte mich daher, ihm zu erzählen, weshalb ich mich über das schöne Geschlecht beklagte. Ich entschloß mich gern, seiner Neugier genugzutun; aber da ich ihm einen langen Bericht zu geben hatte und wir uns so bald nicht zu trennen gedachten, so traten wir in eine Schenke, um uns in aller Ruhe unterhalten zu können. Da erzählte ich ihm denn beim Frühstück alles, was mir seit meinem Aufbruch aus Oviedo begegnet war. Er fand meine Abenteuer recht wunderbar, und nachdem er mir versichert hatte, wie sehr er meine unangenehme Lage bedaure, sagte er: Mein Freund, man muß sich über alles Unglück im Leben trösten: dadurch unterscheidet sich eine starke und mutige Seele von einer schwachen. Ist ein Mann[59] von Geist im Elend, so wartet er in Geduld auf bessere Zeiten. Ich zum Beispiel war von jeher über alles Unglück erhaben. Ich liebte ein vornehmes Mädchen in Oviedo, sie liebte mich: ich bat ihren Vater um ihre Hand, er schlug sie mir ab. Ein andrer wäre vor Gram gestorben; ich – bewundere die Kraft meines Geistes! – entführte das Persönchen. Sechs Monate führte ich sie in Galicien spazieren: sie fand Gefallen am Reisen und wollte nach Portugal; aber sie nahm einen anderen Reisegefährten. Ich erlag auch diesmal nicht der Last des Unglücks. Und da ich nicht nach Asturien heimkehren konnte – denn beim Aufbruch aus Oviedo hatten wir beide lange Finger gemacht –, so zog ich ins Königreich Leon weiter. Aber mein Geld ging bald zur Neige. In Palencia kam ich mit einem einzigen Dukaten an, von dem ich mir ein Paar Schuhe kaufen mußte. Meine Lage wurde peinlich; schon begann ich Hunger zu leiden. Da beschloß ich, in Dienst zu gehen. Ich nahm Stellung bei einem Tuchhändler, der einen liederlichen Sohn hatte. Der Vater befahl mir, bei seinem Sohn den Spion zu spielen; der Sohn bat mich, ihm zu helfen, wenn er den Vater betrog: ich mußte wählen. Ich gab vor dem Befehl der Bitte den Vorzug, und das trug mir meinen Abschied ein. Nun ging ich nach Valladolid, wo ich durch den größten Glücksfall im Hause eines Hospitalverwesers Stellung fand. Bei ihm bin ich noch und bin entzückt von meiner Stellung. Der Herr Manuel Ordonnez ist ein Mann von tiefer Frömmigkeit. Man sagt, schon seit seiner frühesten Jugend habe er nur das Wohl der Armen im Auge. Und seine Hingebung ist nicht ohne Lohn geblieben; alles gedeiht ihm. Durch seine Fürsorge für die Armen ist er reich geworden.

Als Fabricio so gesprochen hatte, sagte ich: Es freut mich, daß du mit deinem Lose zufrieden bist; aber, unter uns, mir scheint, du könntest doch eine bessere Rolle in der Welt spielen als die eines Dieners. Das ist nicht dein Ernst, Gil Blas, gab er zurück. Der Beruf eines Lakaien, das gebe ich zu, ist[60] für einen Dummkopf mühsam; aber für einen Burschen von Geist hat er großen Reiz. Ein überlegener Geist, der in Stellung geht, tut seinen Dienst nicht wie ein Gimpel. Er tritt in ein Haus, um zu befehlen, nicht um zu dienen. Zunächst studiert er seinen Herrn: er leistet seinen Fehlern Vorschub, gewinnt sein Vertrauen und führt ihn dann an der Nase herum. So bin ich mit meinem Verwalter verfahren. Zunächst merkte ich, daß er als Heiliger gelten wollte. Ich tat, als ließe ich mich täuschen, das kostet nichts. Ich tat mehr: ich kopierte ihn; ich spielte ihm die Rolle vor, die er den andern vorspielt: ich betrog den Betrüger, und allmählich wurde ich sein Faktotum. Ich hoffe, ich werde mich eines Tages unter seiner Leitung selber mit der Sorge für die Armen befassen können.

Das sind schöne Hoffnungen, mein lieber Fabricio, sagte ich, und ich wünsche dir Glück. Ich meinerseits komme auf meinen ersten Plan zurück. Ich will mein gesticktes Kleid mit der Soutane vertauschen, nach Salamanca ziehn, mich unter dem Banner der Universität einschreiben und das Amt eines Erziehers bekleiden. Ein schöner Plan! rief Fabricio aus; ein köstlicher Gedanke! Welcher Wahnsinn, in deinem Alter Schulfuchs zu werden! Weißt du denn, Unglückseliger, was du da auf dich nimmst? Sowie du eine Stellung hast, wird dich das ganze Haus beobachten, und deine geringsten Handlungen werden peinlichst kritisiert. Unaufhörlich mußt du dir Zwang antun, mußt dich unter einem heuchlerischen Schein verstecken und tun, als besäßest du jede Tugend. Nicht einen Augenblick wirst du dich dem Vergnügen widmen können. Und welches wird der Lohn deiner Arbeit sein? Wenn der kleine Edelmann, dein Schüler, nichts taugt, so wird man sagen, du habest ihn schlecht erzogen; die Eltern schicken dich ohne Belohnung fort, ja zahlen dir vielleicht nicht einmal das gebührende Gehalt. Sprich mir nicht von einer Lehrerstellung, einem Seelsorgeramt. Aber rede mir vom[61] Amt des Lakaien! Das ist eine Pfründe, die zu nichts verpflichtet. Hat ein Brotherr Laster, so schmeichelt ihnen der überlegene Geist, der ihm dient, und wendet sie zu seinem Nutzen, sooft er kann. Ein Diener lebt in einem guten Hause ohne Sorgen. Hat er sich satt gegessen und getrunken, so schläft er ruhig ein wie ein Kind vom Hause, ohne an Fleischer und Bäcker zu denken.

Ich käme zu keinem Ende, mein Freund, fuhr er fort, wollte ich dir alle Vorteile eines Dieners nennen. Glaube mir, Gil Blas, gib den Gedanken, Erzieher zu werden, für immer auf und folge meinem Beispiel. Ja; aber, Fabricio, erwiderte ich, man findet nicht alle Tage Hospitalverweser; und wenn ich mich zum Dienst entschlösse, möchte ich wenigstens keine schlechte Stellung haben. Da hast du recht, sagte er; doch das übernehme ich. Ich garantiere dir für eine gute Stellung, wäre es auch nur, um der Universität einen Ehrenmann zu entreißen.

Da mich das nahe Elend, das mir drohte, und Fabricios zufriedene Miene mehr noch als seine Gründe überredeten, so beschloß ich, Dienste zu nehmen. Wir verließen die Schenke, und mein Landsmann sagte: Ich werde dich stehenden Fußes zu einem Makler führen, an den sich die meisten Lakaien wenden, die auf dem Pflaster liegen; dieser hat Spione, die ihn über alles unterrichten, was in den Familien vorgeht. Er weiß, wo man Diener braucht, und führt eine genaue Liste nicht nur der freien Stellen, sondern auch der guten und schlechten Eigenschaften der Herren. Er ist in ich weiß nicht welchem Kloster Bruder gewesen. Er hat auch mir meine Stellung verschafft.

Der Sohn des Bartscherers Nunez führte mich nun in eine Sackgasse hinein. Wir traten in ein kleines Haus, wo wir einen Mann von fünfzig und einigen Jahren fanden, der an einem Tische schrieb. Wir grüßten ihn voller Hochachtung; aber sei es, daß er von Natur hochmütig war, sei es, daß er[62] nur Lakaien und Kutscher zu empfangen gewohnt war und also alle Welt verächtlich grüßte: er stand nicht auf und begnügte sich mit einer leichten Neigung des Kopfes. Trotzdem aber sah er mich mit besonderer Aufmerksamkeit an. Ich sah sehr wohl, er war erstaunt, daß ein junger Mann in gesticktem Samtkleid Lakai werden wollte; eher mußte er annehmen, daß ich einen suchte. Er konnte sich jedoch nicht lange über meine Absicht täuschen, da Fabricio alsbald sagte: Herr Arias de Londona, erlaubt, daß ich Euch meinen besten Freund zuführe. Er ist aus guter Familie; aber das Unglück zwingt ihn zum Dienst. Weist ihm, ich bitte Euch, eine gute Stellung nach und zählt auf seinen Dank. Meine Herren, erwiderte Arias kühl, so seid ihr alle. Vorher gebt ihr die schönsten Versprechungen, und nachher entsinnt ihr euch ihrer nicht mehr. Was! rief Fabricio, beklagt Ihr Euch über mich? Habe ich es Euch nicht recht gemacht? Ihr hättet es noch besser machen können, erwiderte Arias: Eure Stellung ist so gut wie ein Schreiberposten, und Ihr habt mich bezahlt, als hätte ich Euch bei einem Schriftsteller untergebracht. Da ergriff ich das Wort und sagte dem Herrn Arias, um ihm zu zeigen, daß ich nicht undankbar sei, solle diesmal der Dank dem Dienst vorangehen. Ich zog zwei Dukaten aus der Tasche, gab sie ihm und versprach, wenn ich in einem guten Hause untergebracht wäre, so solle es nicht dabei bleiben.

Arias schien mit meiner Handlungsweise zufrieden. Das liebe ich, sagte er, wenn man so mit mir umgeht. Es sind, fuhr er fort, ausgezeichnete Stellen frei; ich werde sie Euch nennen; wählt Ihr, welche Euch gefällt. Damit setzte er sich seine Brille auf, nahm eine Liste vom Tisch, schlug ein paar Seiten um und begann zu lesen: Der Hauptmann Torbellino braucht einen Lakaien; jähzornig, brutal, grillenhaft, schimpft unaufhörlich, flucht und schlägt; seine Diener werden meist zu Krüppeln. Zu einem anderen! rief ich; der Hauptmann ist nicht nach meinem Geschmack. Arias lächelte über meine[63] Lebhaftigkeit und fuhr fort: Der Doktor Alvar Fanez braucht einen Kammerdiener. Er ist Arzt und Chemiker. Er ernährt seine Dienstboten gut, hält sie vortrefflich und zahlt sogar hohen Lohn; aber er probiert seine Arzneien an ihnen. Bei ihm sind häufig Lakaienstellen frei. Das glaube ich gern, unterbrach Fabricio ihn lachend. Ihr weist uns da schöne Stellen nach! Geduld, sagte Arias de Londona, wir sind noch nicht am Ende. Und er las weiter: Der Lizentiat Sedillo, ein alter Domherr vom Kapitel, hat gestern abend seinen Kammerdiener fortgejagt ... Halt! Herr Arias de Londona, rief Fabricio aus, bei diesem Posten bleiben wir. Der Lizentiat Sedillo gehört zu den Freunden meines Herrn, und ich kenne ihn sehr gut. Ich weiß, daß er eine alte Betschwester zur Haushälterin hat, Frau Hyazinte, die alles bei ihm leitet. Das ist eins der besten Häuser in Valladolid: man lebt dort in Ruhe und führt eine gute Tafel. Im übrigen ist der Domherr ein alter Invalide, ein Gichtbrüchiger, der bald sein Testament macht: da steht ein Legat zu erhoffen. Eine reizende Aussicht für einen Kammerdiener! Gil Blas, fügte er hinzu, keine Zeit verloren, mein Freund; wir wollen sofort zum Lizentiaten. Ich will dich selber vorstellen und dir als Bürge dienen. Und aus Furcht, die schöne Gelegenheit zu versäumen, nahmen wir jählings vom Herrn Arias Abschied, der noch versicherte, wenn mir diese Stelle entgehe, werde er mir für mein Geld eine ebenso gute verschaffen.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 57-64.
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