Sechstes Kapitel

[26] Was Gil Blas tat, da er nichts Besseres tun konnte


Die ersten Tage meinte ich, dem Gram, der mich verzehrte, erliegen zu müssen. Ich schleppte nur ein sterbendes Leben hin; aber schließlich gab mir mein guter Geist den Gedanken der Verstellung ein. Ich tat, als wäre ich weniger traurig, ich begann zu lachen und zu singen, obgleich ich keineswegs Lust dazu verspürte; mit einem Wort, ich bezwang mich so gut, daß Leonharde und der Neger Domingo sich täuschen ließen. Sie glaubten bald, der Vogel gewöhne sich an seinen Käfig. Die Räuber bildeten sich das auch ein. Ich setzte eine lustige Miene auf, wenn ich ihnen zu trinken eingoß, und ich mischte mich in ihr Gespräch, wenn ich Gelegenheit fand, einen Scherz einzuflechten. Mein Übermut mißfiel ihnen keineswegs; sie lachten darüber. Gil Blas, sagte der Hauptmann eines Abends, als ich den Witzigen spielte, zu mir: Du tust gut daran, mein Freund, die Melancholie zu verbannen; ich bin entzückt von deiner Laune und deinem Geist. Man kann die Leute nicht gleich kennen; ich hielt dich nicht für so geistreich und so lustig.

Auch die andern spendeten mir viel Lob und ermahnten mich, in den edlen Empfindungen, die ich ihnen bezeigte, auszuharren; kurz, sie schienen so zufrieden mit mir, daß ich die günstige Stimmung ausnutzen wollte. Meine Herren, sagte ich, erlaubt, daß ich meine innerste Seele entblöße. Seit ich hier bin, fühle ich mich als ein ganz neuer Mensch. Ihr habt die Vorurteile meiner Erziehung zerstört; ich habe unmerklich euren Geist angenommen. Ich finde Geschmack an eurem Handwerk; für mein Leben gern hätte ich die Ehre, euer Genosse zu werden und die Gefahren eurer Streifzüge zu teilen. Die ganze Bande nahm diese Rede mit Beifall auf. Man lobte meinen guten Willen, und es wurde einstimmig beschlossen, daß man mich, um meine Anlagen auf die Probe[27] zu stellen, noch eine Weile dienen lassen solle; dann wollte man erlauben, daß ich mich mit ihnen umtue, und schließlich sollte ich die ehrenhafte Stellung, nach der ich strebte, erhalten; man könne sie, sagten die Räuber, einem jungen Menschen, der so viel guten Willen verrate, nicht verweigern.

Ich mußte mich also weiter bezwingen und meines Mundschenkenamtes walten. Ich war sehr verdrossen, denn ich strebte einzig danach, Räuber zu werden, um frei wie die andern die Höhle verlassen zu dürfen; und ich hoffte, wenn ich mit ihnen ausritt, würde ich ihnen eines Tages entwischen können. Die Wartezeit wurde mir lang, und mehr als einmal versuchte ich Domingos Wachsamkeit zu überlisten, denn der Neger war mir zum Wächter bestellt. Aber es war unmöglich; er war zu sehr auf der Hut. Ich vertröstete mich also auf die Zeit, da die Räuber mich in ihre Bande aufnehmen wollten, und ich wartete mit derselben Ungeduld, als hätte ich in eine Steuerpächtergesellschaft eintreten sollen.

Dem Himmel sei Dank! Sechs Monate darauf war diese Zeit gekommen. Eines Abends sagte der Herr Rolando zu seinen Reitern: Meine Herren, wir müssen Gil Blas Wort halten. Ich habe keine schlechte Meinung von dem Burschen; er scheint mir dazu geschaffen, auf unsrer Spur zu wandeln; ich glaube, wir werden etwas aus ihm machen. Ich halte dafür, wir nehmen ihn morgen mit, damit er sich auf der Landstraße den Lorbeer hole. Wir wollen ihn selber auf den Weg zum Ruhme führen. Die Räuber waren alle der Ansicht ihres Hauptmanns; und um mir zu zeigen, daß sie mich schon als einen der Ihren ansahen, entbanden sie mich alsbald von der Pflicht des Bedienens. Sie setzten die alte Leonharde wieder in das Amt ein, das man ihr genommen hatte, um es mir zu geben. Ich erhielt als Kleidung die Gewänder eines jüngst beraubten Edelmannes, und so machte ich mich zu meinem ersten Streifzug bereit.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 26-28.
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