Viertes Kapitel

[23] Schilderung der Höhle und was Gil Blas dort sah


Da erkannte ich, bei was für Leuten ich war, und man kann sich denken, daß mir diese Erkenntnis meine erste Furcht benahm. Ein größerer und berechtigterer Schrecken faßte meine Sinne; ich glaubte, ich würde mit meinen Dukaten zugleich das Leben verlieren. So sah ich mich, als ich, schon[23] mehr tot als lebendig, zwischen meinen Führern dahinging, ungefähr wie ein Opfer an, das man zum Altar führt, obgleich sie mich ermahnten, nichts zu fürchten; denn sie fühlten wohl, wie ich zitterte. Nachdem wir in dem beständig gewundenen und abfallenden Gang etwa zweihundert Schritte getan hatten, kamen wir in einen Stall, den zwei große, am Gewölbe hängende eiserne Lampen beleuchteten. Es war reichlicher Vorrat an Stroh vorhanden, und ich sah mehrere Fässer voll Gerste. Zwanzig Pferde fanden bequem dort Platz, aber zur Zeit waren nur die beiden meiner Begleiter darin. Ein alter Neger, der jedoch noch ziemlich kräftig zu sein schien, band sie an der Raufe an.

Wir durchschritten den Stall und kamen beim traurigen Licht einiger weiterer Lampen, die diese Gänge nur zu beleuchten schienen, um mir ihr Grauen zu zeigen, in eine Küche, wo ein altes Weib auf einem Kohlenbecken zum Nachtmahl Fleisch briet. Die Küche war mit dem notwendigen Gerät versehen, und von ihr aus blickte man in eine Speisekammer, die alle möglichen Vorräte enthielt. Das Weib war etwa sechzig und einige Jahre alt. Sie hatte in ihrer Jugend brennend blondes Haar gehabt; denn es war noch nicht so weiß, daß nicht noch ein paar Spuren der früheren Farbe geblieben wären. Abgesehen von dem olivgrünen Teint hatte sie ein spitzes, gebogenes Kinn und ganz eingefallene Lippen; eine große Adlernase reichte ihr bis über den Mund hinab, und ihre Augen schienen von wundervollem Purpurrot zu sein.

Hier, Leonharde, sagte der eine der Reiter, indem er mich diesem Engel der Finsternis vorstellte, bringen wir Euch einen jungen Burschen. Und dann wandte er sich zu mir: Mein Freund, keine Angst! man wird dir nichts antun. Wir brauchten gerade einen Burschen, der unsrer Köchin helfen soll; daß wir dich fanden, ist ein Glück für dich. Die Sonne freilich wirst du nicht wiedersehn; dafür aber sollst du gut zu essen und ein gutes Feuer haben. Du wirst deine Tage in Gesellschaft[24] Leonhardens verbringen, die ein ganz menschliches Geschöpf ist: du sollst alle deine kleinen Annehmlichkeiten haben. Ich will dir zeigen, fügte er hinzu, daß du hier nicht bei Bettlern bist. Er griff nach einer Fackel und hieß mich ihm folgen.

Er führte mich in ein Gewölbe, wo ich eine große Menge von gut verschlossenen Flaschen und irdenen Krügen erblickte, die, wie er mir sagte, voll eines ausgezeichneten Weins waren. Dann ließ er mich ein paar Kammern durchschreiten. In der einen lagen Leinwandballen, in der andern wollene und seidene Stoffe; in einer endlich sah ich Gold und Silber, viel Geschirr mit mancherlei Wappen, gar nicht zu zählen. Dann folgte ich ihm in einen großen Saal, den drei kupferne Kronleuchter erhellten und der als Durchgang zu weiteren Kammern diente. Dort stellte er mir neue Fragen. Er wollte wissen, wie ich heiße und weshalb ich Oviedo verlassen hätte; und als ich seine Neugier befriedigt hatte, sagte er: Nun, Gil Blas, da du deine Heimat nur verlassen hast, um dir eine gute Stellung zu suchen, so mußt du ein Sonntagskind sein, daß du uns in die Hände gefallen bist. Ich sagte ja schon, du wirst hier im Überfluß leben und dich auf Gold und Silber wälzen. Übrigens bist du hier in Sicherheit. Diese Höhle ist so versteckt, daß die Beamten der heiligen Hermandad hundertmal in diesen Wald kommen könnten, ohne sie zu entdecken. Der Eingang ist nur mir und meinen Kumpanen bekannt. Ich heiße Hauptmann Rolando. Ich bin der Anführer der Kumpanei, und der Reiter, den du bei mir gesehn hast, ist einer meiner Leute.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 23-25.
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