Vierzehntes Kapitel

[52] In dem man sieht, daß man nicht zu sehr auf das Glück zählen darf


Am ersten Abend schliefen wir in Duegnas, und am zweiten Tage kamen wir gegen vier Uhr nachmittags nach Valladolid. Wir stiegen in einem Gasthof ab, der mir als einer der besten der Stadt erschien. Ich überließ es meinem Diener, für die Maultiere zu sorgen, und stieg in ein Zimmer hinauf, in das ich durch einen Knecht auch mein Felleisen bringen ließ. Da ich mich müde fühlte, warf ich mich, ohne die Stiefel auszuziehn, aufs Bett, wo ich bald einschlief. Als ich erwachte, war es fast Nacht. Ich rief nach Ambrosio. Er war nicht im Gasthof; aber er kam bald darauf. Ich fragte ihn, wo er gewesen sei, und er antwortete: in einer Kirche; er habe dem Himmel gedankt, daß er uns von Burgos bis Valladolid vor jedem Unfall bewahrt habe. Ich zollte ihm Beifall; dann befahl ich ihm, mir zum Nachtmahl ein Hühnchen auf den Bratspieß stecken zu lassen.

Während ich ihm diesen Auftrag gab, trat mein Wirt mit einer Fackel in der Hand ins Zimmer. Er beleuchtete eine Dame, die mir eher schön als jung und sehr reich gekleidet schien. Sie stützte sich auf einen alten Diener, und ein kleiner Maure trug ihr die Schleppe. Ich war nicht wenig erstaunt, als diese Dame sich tief vor mir verneigte und fragte,[52] ob ich nicht etwa der Herr Gil Blas von Santillana sei. Ich hatte kaum ja gesagt, so ließ sie die Hand des Alten los und umarmte mich mit einem Überschwang der Freude, der mein Staunen nur vermehrte. Der Himmel, rief sie aus, sei auf ewig gesegnet für diesen Zufall! Ihr, Herr Kavalier, Ihr seid der, den ich suche. Bei diesem Anfang fiel mir der Parasit in Pegnaflor ein, und fast hätte ich die Dame für eine Erzabenteurerin gehalten; erst als sie fortfuhr, kam ich zu einem günstigern Urteil. Ich bin, sagte sie, ein Geschwisterkind der Doña Mencia de Mosquera, die Euch so sehr verpflichtet ist. Ich habe heute morgen einen Brief von ihr erhalten. Sie schreibt mir, da sie erfahren habe, Ihr ginget nach Madrid, so bitte sie mich, Euch gut zu bewirten, wenn Ihr hier durchkämt. Seit zwei Stunden suche ich Euch in der ganzen Stadt. Ich gehe von Gasthof zu Gasthof, um mich nach den Fremden zu erkundigen; und nach der Beschreibung, die Euer Wirt von Euch machte, dachte ich, Ihr könntet wohl der Befreier meiner Cousine sein. Ihr werdet doch, laßt Euch bitten, noch heute abend in meinem Hause Wohnung nehmen; dort werdet Ihr besser untergebracht sein als hier. Ich wollte mich sträuben, aber es war unmöglich, sich ihren Bitten zu widersetzen. Vor der Tür des Gasthofs erwartete uns ein Wagen. Sie sorgte selber dafür, daß man mein Felleisen hineintrug, denn, sagte sie, es gibt so viele Schelme in Valladolid; was denn auch nur zu richtig war. Schließlich stieg ich mit ihr und ihrem alten Diener ein und ließ mich zum großen Mißvergnügen des Wirts aus dem Gasthof entführen.

Unser Wagen hielt nach einer Weile an. Wir stiegen aus, betraten ein ziemlich großes Haus und gingen in ein Gemach hinauf, das nicht unsauber war und in dem zwanzig oder dreißig Kerzen brannten. Ich sah dort mehrere Diener, und die Dame fragte zunächst, ob Don Raphael nach Hause gekommen sei; sie antworteten: nein. Da richtete sie das Wort an mich und sagte: Herr Gil Blas, ich erwarte meinen Bruder,[53] der heute abend von einem Schloß zurückkehren soll, das zwei Stunden von hier entfernt liegt und uns gehört. Welche angenehme Überraschung für ihn, den Mann in seinem Hause zu finden, dem unsre ganze Familie so vielen Dank schuldig ist! Im selben Augenblick hörten wir ein Geräusch, und zugleich erfuhren wir, daß Don Raphael soeben gekommen sei. Der Edelmann erschien gar bald. Ich sah einen jungen Mann von schönem Wuchs und gutem Ausdruck. Ich bin entzückt, daß Ihr kommt, mein Bruder, sagte die Dame; Ihr werdet mir helfen, den Herrn Gil Blas von Santillana würdig zu empfangen. Wir können nicht genügend anerkennen, was er für Doña Mencia, unsre Verwandte, getan hat. Seht, fügte sie hinzu, indem sie ihm einen Brief hinhielt, lest, was sie mir schreibt. Don Raphael entfaltete den Brief und las. Wie! rief er, als er fertig war, diesem Kavalier dankt unsere Cousine ihr Leben? Ah! ich sage dem Himmel Dank für diese glückliche Begegnung. Mit diesen Worten trat er zu mir, drückte mich an seine Brust und rief: Welche Freude ist es mir, den Herrn Gil Blas von Santillana bei mir zu sehen! Unsere Cousine brauchte uns nicht erst zu empfehlen, daß wir Euch bewirten; sie brauchte uns nur zu schreiben, daß Ihr Valladolid berührtet: das genügte. Ich antwortete, so gut ich konnte, auf diese Worte, denen noch viele ähnliche folgten, unterbrochen von tausend Schmeicheleien. Dann, als er sah, daß ich noch meine Stiefel anhatte, ließ er sie mir von seinen Dienern ausziehn.

Wir gingen in ein Zimmer hinüber, wo gedeckt war. Wir setzten uns zu Tisch. Während des Essens sagten mir der Edelmann und die Dame hundert liebenswürdige Dinge. Ich konnte kein Wort fallen lassen, ohne daß sie es als eine Perle rühmten, und man mußte sehn, mit welcher Aufmerksamkeit sie beide mir von allen Schüsseln boten. Don Raphael trank oft auf Doña Mencias Wohl, und ich folgte seinem Beispiel. Bisweilen schien es mir, als würfe mir Camilla, seine[54] Schwester, die mit uns anstieß, Blicke zu, die etwas bedeuteten. Ich glaubte sogar zu bemerken, daß sie die Zeit dazu wählte, als fürchtete sie, ihr Bruder könne es sehn. Mehr war nicht nötig, mich zu überzeugen, daß die Dame Feuer fing, und ich gab mich dem angenehmen Gedanken hin, daß ich diese Entdeckung ausnützen würde, wenn ich in Valladolid blieb. Diese Hoffnung bewirkte, daß ich mich schnell ihren Bitten fügte, ein paar Tage bei ihnen zu verbringen. Sie dankten mir für meine Zusage, und die Freude, die Camilla bezeigte, bestärkte mich in der Meinung, daß ich ihr sehr gefiel.

Als Don Raphael sah, daß ich bereit war, mich ein wenig bei ihnen aufzuhalten, schlug er mir vor, mich auf sein Schloß zu führen. Er gab mir eine großartige Schilderung davon und sprach mir von den Vergnügungen, die er mir zu Ehren veranstalten wollte. Heute, sagte er, werden wir jagen, morgen fischen, und wenn Ihr gern spazieren geht, so haben wir Wälder und köstliche Gärten. Im übrigen werden wir gute Gesellschaft finden: ich hoffe, Ihr werdet keine Langeweile haben. Ich nahm den Vorschlag an, und es wurde beschlossen, daß wir schon anderntags in dieses schöne Schloß ziehen sollten. Wir standen vom Tische auf. Don Raphael schien vor Freude außer sich. Herr Gil Blas, sagte er, indem er mich umarmte, ich lasse Euch mit meiner Schwester allein. Ich eile stehenden Fußes, die nötigen Befehle zu geben und alle die benachrichtigen zu lassen, die ich einladen möchte. Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und ich unterhielt mich weiter mit der Dame, die ihre süßen Blicke durch ihre Worte nicht Lügen strafte. Sie nahm mich bei der Hand und besah meinen Ring: Ihr habt da, sagte sie, einen recht hübschen Diamanten; aber er ist etwas klein. Versteht Ihr Euch auf Edelsteine? Ich verneinte. Das tut mir leid, erwiderte sie, denn sonst könntet Ihr mir sagen, was dieser wert ist. Und sie zeigte mir einen großen Rubin, den sie am Finger hatte; und während ich ihn betrachtete, sagte sie: Einer meiner[55] Onkel, der in den Ansiedlungen der Spanier auf den Philippinen Gouverneur war, hat mir diesen Rubin geschenkt. Die Juweliere von Valladolid schätzen ihn auf dreihundert Pistolen. Das glaube ich gern, sagte ich, ich finde ihn wunderbar schön. Da er Euch gefällt, sagte sie, will ich einen Tausch mit Euch machen. Sie nahm meinen Ring und schob mir den ihren auf den kleinen Finger. Nach diesem Tausch, der mir als eine artige List erschien, um mir ein Geschenk zu machen, drückte Camilla mir die Hand und sah mich zärtlich an; dann brach sie plötzlich die Unterhaltung ab, sagte mir gute Nacht und zog sich ganz verwirrt zurück, als schämte sie sich, mir ihre Gefühle zu sehr zu offenbaren.

Obgleich ich in der Galanterie ein Neuling war, empfand ich doch, wie schmeichelhaft dieser plötzliche Rückzug für mich war, und ich dachte, ich würde die Zeit auf dem Lande nicht übel verbringen. Ganz erfüllt von diesem angenehmen Gedanken und von dem glänzenden Stand meiner Angelegenheiten, schloß ich mich in das Zimmer ein, wo ich schlafen sollte, indem ich noch meinem Diener sagte, er solle mich am folgenden Tage in aller Frühe wecken. Statt an Ruhe zu denken, gab ich mich den erfreulichen Gedankengängen hin, die mir das Felleisen auf dem Tisch und der Rubin eingaben. Schließlich aber streute doch Morpheus allen heitern Bildern zum Trotz seine Mohnkörner über mich aus. Sowie ich schläfrig wurde, zog ich mich aus und ging zu Bett.

Als ich am Morgen erwachte, merkte ich, daß es schon spät war. Ich war erstaunt, daß trotz meines Befehls mein Diener nicht gekommen war. Ambrosio, sagte ich mir, mein treuer Ambrosio, ist in der Kirche, oder er ist heute faul. Aber bald gab ich diese Meinung von ihm zugunsten einer schlimmeren auf; denn als ich mich erhob und mein Felleisen nicht mehr sah, schöpfte ich Verdacht, er habe es während der Nacht gestohlen. Um meinen Argwohn aufzuklären, öffnete ich die Tür und rief wiederholt nach dem Heuchler. Auf[56] meine Rufe kam ein Greis, der mich fragte: Was wünscht Ihr, Herr? All Eure Leute haben mein Haus vor Tagesanbruch verlassen. Wie! rief ich, Euer Haus! Bin ich denn hier nicht bei Don Raphael? Ich weiß nicht, wer dieser Edelmann ist, erwiderte er. Ihr seid in einem Logierhaus, und ich bin der Wirt. Gestern abend, eine Stunde vor Eurer Ankunft, mietete die Dame, die hier mit Euch zu Nacht gegessen hat, diese Zimmer für einen großen Herrn, der, wie sie sagte, inkognito reist. Sie hat mich sogar im voraus bezahlt.

Da wußte ich Bescheid. Ich wußte, was ich von Camilla und Don Raphael zu halten hatte, und ich erriet, daß mich mein Diener, der meine Verhältnisse genau genug kannte, an diese Schelme verkauft hatte. Statt diesen traurigen Zwischenfall nur mir zur Last zu legen und zu bedenken, daß er mir nicht zugestoßen wäre, wenn ich nicht so unvorsichtig gewesen wäre, mich ohne Not Majuelo zu eröffnen, hielt ich mich an das unschuldige Schicksal und fluchte hundertmal meinem Stern. Der Wirt des Logierhauses, dem ich mein Abenteuer erzählte, das er vielleicht so gut kannte wie ich, zeigte Gefühl für meinen Schmerz. Er beklagte mich und versicherte mir, er sei untröstlich, daß diese Szene in seinem Hause passiert sei. Aber trotz seiner Beteuerungen, glaube ich, war er an diesem Schelmenstück nicht minder beteiligt als mein Wirt in Burgos, dem ich immer die Ehre der Erfindung zugesprochen habe.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 52-57.
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