Erstes Kapitel

[233] Von der Beratung der vier Flüchtigen und dem Abenteuer, das ihnen zustieß, als sie den Wald verlassen wollten


Nach langer Ruhe saßen wir gegen Abend wieder beisammen, und der Herr Ambrosio ergriff das Wort, indem er zu dem Gefährten seiner Taten sagte: Don Raphael, bedenkt, daß die Sonne untergeht. Es wäre geraten, scheint mir, zu überlegen, was wir zu tun haben. Ihr habt recht, versetzte sein Gefährte; wir müssen festsetzen, wohin wir ziehen wollen. Ich, sagte Lamela, bin dafür, daß wir uns unverzüglich wieder auf den Weg machen, heute nacht Requena zu erreichen suchen und morgen ins Königreich Valencia hinübergehen, wo wir unsrer Erfindungsgabe freien Lauf lassen wollen. Ich habe so eine Ahnung, als würden uns dort gute Streiche gelingen. Sein Ordensbruder, der seine Ahnung in diesen Dingen für unfehlbar hielt, schloß sich seiner Meinung an. Und wir, Don Alphonso und ich, erwarteten, da wir uns von diesen beiden Ehrenmännern leiten ließen, ohne ein Wort das Resultat der Besprechung.

Es wurde also beschlossen, daß wir die Straße nach Requena einschlagen sollten, und wir begannen, uns dazu zu rüsten. Wir hielten eine Mahlzeit, die der vom Morgen glich, beluden das Pferd mit dem Schlauch und dem Rest unsrer Vorräte, und als die hereinbrechende Nacht das Dunkel brachte, dessen wir zum ungefährdeten Marsch bedurften, wollten wir den Wald verlassen. Aber wir hatten noch keine hundert Schritte getan, als wir zwischen den Bäumen ein Licht bemerkten,[233] das uns viel zu denken gab. Was bedeutet das? sagte Don Raphael: wären das etwa die Spürhunde der Justiz von Cuenza, die man uns auf die Fersen gejagt hätte? Ich glaube nicht, sagte Ambrosio; es werden Reisende sein. Die Nacht wird sie überrascht haben, und sie haben sich in den Wald verzogen, um den Tag zu erwarten. Aber, fügte er hinzu, ich kann mich täuschen: ich werde einmal rekognoszieren. Bleibt hier; ich bin im Nu wieder da. Mit diesen Worten schlich er auf das Licht zu, das nicht sehr fern war. Leise schob er Zweige und Blätter, die ihm im Wege waren, beiseite und spähte mit all der Aufmerksamkeit aus, die ihm die Sache zu verdienen schien. Er sah um ein brennendes Talglicht, das in einem Erdklumpen stak, vier Leute im Grase sitzen, die gerade den Rest einer Pastete aßen und einen ziemlich großen Schlauch leertranken, den sie reihum an die Lippen drückten. Einige Schritte von ihnen entfernt sah er noch eine Frau und einen Kavalier, die an Bäume gefesselt waren, und weiterhin einen leichten Kutschwagen mit zwei reich aufgeschirrten Maultieren. Er kam gleich zu dem Schluß, daß die sitzenden Leute Räuber sein müßten, und ihre Reden, die er vernahm, ließen ihn erkennen, daß er sich mit seiner Vermutung nicht täuschte. Die vier Briganten bezeigten sämtlich das gleiche Verlangen, die Dame, die ihnen in die Hände gefallen war, zu besitzen, und sie sprachen davon, sie auszulosen. Sobald er wußte, um was es sich handelte, kehrte Lamela zu uns zurück und erstattete uns getreulich Bericht über alles, was er gehört und gesehen hatte.

Meine Herren, sagte Don Alphonso da, diese Dame und der Kavalier, die die Räuber gefesselt haben, sind vielleicht Leute des höchsten Standes. Sollen wir dulden, daß die Briganten sie zu Opfern ihrer Barbarei und ihrer Brutalität machen? Stimmt mir zu und laßt uns diese Banditen angreifen! Sie sollen unter unsern Streichen fallen. Ich bin dabei, sagte Don Raphael. Ich bin nicht weniger zu einer guten als zu einer[234] schlechten Handlung bereit. Ambrosio seinerseits beteuerte, daß er sich nichts Besseres wünschte, als die Hand zu einer so lobenswerten Unternehmung zu leihen, für die wir, wie er voraussehe, gut bezahlt werden würden. Ich wage gleichfalls zu sagen, daß mich bei dieser Gelegenheit die Gefahr nicht schreckte und daß sich kein fahrender Ritter je zum Dienst für die Frauen williger gezeigt hat. Aber die Wahrheit zu sagen, war die Gefahr nicht groß: Lamela hatte uns berichtet, die Waffen der Räuber lägen zehn oder zwölf Schritte von ihnen entfernt zu einem Haufen geschichtet, und so war es nicht schwer, unsern Plan durchzuführen. Wir banden unser Pferd an einen Baum und näherten uns möglichst leise dem Ort, wo die Räuber lagerten. Wir bemächtigten uns ihrer Waffen, eh sie uns noch gesehen hatten; dann schossen wir aus unmittelbarer Nähe und streckten sie sämtlich ins Gras.

Dabei erlosch die Kerze, so daß wir im Dunkel waren. Trotzdem banden wir sogleich den Herrn und die Dame los, die beide so von Furcht ergriffen waren, daß sie nicht einmal die Kraft hatten, uns für unsere Hilfe zu danken. Freilich wußten sie noch nicht, ob sie uns als ihre Befreier anzusehen hatten oder nur als neue Banditen, die sie den andern keineswegs nahmen, um sie besser zu behandeln. Aber wir beruhigten sie, indem wir ihnen sagten, wir wollten sie in ein Gasthaus führen, das nach Ambrosios Behauptung nur eine halbe Wegstunde entfernt sei, und dort könnten sie jede nötige Vorsichtsmaßregel treffen, um sich in Sicherheit an ihr Ziel zu begeben. Nach dieser Erklärung, mit der sie sehr zufrieden schienen, setzten wir sie wieder in ihren Wagen und zogen sie aus dem Wald heraus, indes wir ihre Maultiere am Zügel führten. Dann durchsuchten unsre Klausner die Taschen der Besiegten, und schließlich holten wir Don Alphonsos Pferd herbei. Wir nahmen auch die Pferde der Räuber mit, die wir beim Schlachtfeld an Bäume gefesselt fanden.[235] Dann folgten wir mit all den Pferden dem Bruder Antonio, der eins der Maultiere bestieg, um den Wagen in das Gasthaus zu fahren, wo wir jedoch erst nach zwei Stunden anlangten, obgleich er versichert hatte, daß es nicht weit vom Walde stehe.

Wir klopften rauh ans Tor. Im Hause schlief schon alles. Der Wirt und die Wirtin standen eilig auf und waren keineswegs ärgerlich, daß ihre Ruhe durch die Ankunft eines Wagenzugs gestört wurde, zumal sie glaubten, er werde eine viel höhere Zeche machen, als es nachher der Fall war. Das ganze Gasthaus war im Nu erleuchtet. Don Alphonso und Don Raphael halfen der Dame und dem Kavalier aus dem Wagen und dienten ihnen sogar bis in das Zimmer, in das der Wirt sie führte, als Geleit. Dort gab es von beiden Seiten viel Komplimente, und wir waren nicht wenig erstaunt, als wir erfuhren, daß wir den Grafen von Polan und seine Tochter Seraphine befreit hatten. Man könnte das Staunen dieser Dame so wenig schildern wie das Don Alphonsos, als sie sich erkannten. Der Graf bemerkte es nicht, so sehr war er mit andern Dingen beschäftigt. Er begann uns zu erzählen, wie die Räuber ihn angegriffen und wie sie sich seiner und seiner Tochter bemächtigt hätten, nachdem sein Postillon, ein Page und ein Kammerdiener gefallen wären. Schließlich sprach er aus, wie lebhaft er sich uns verpflichtet fühlte, und wenn wir ihn in Toledo aufsuchen wollten, wo er in einem Monat eintreffe, so sollten wir sehn, ob er undankbar oder erkenntlich sei.

Auch die Tochter des Edelmanns vergaß nicht, uns für ihre glückliche Befreiung zu danken; und da wir, Raphael und ich, der Meinung waren, wir würden Don Alphonso einen Gefallen tun, wenn wir ihm Gelegenheit gäben, einen Augenblick mit der jungen Witwe allein zu sprechen, so ermöglichten wir ihm dies dadurch, daß wir den Grafen Polan unterhielten. Schöne Seraphine, sagte Don Alphonso leise zu der Dame, ich beklage mich nicht mehr über das Schicksal,[236] das mich zu leben zwingt, als sei ich ein aus der zivilisierten Gesellschaft Verbannter, seit ich das Glück hatte, bei dem großen Dienst, der Euch geleistet wurde, mitzuwirken. Ach! erwiderte sie seufzend, Ihr habt mir Ehre und Leben gerettet! Euch schulden mein Vater und ich so viel Dank! Ach, Don Alphonso, weshalb habt Ihr meinen Bruder getötet? Mehr sagte sie ihm nicht; aber er entnahm den Worten und dem Ton, in dem sie gesprochen wurden, daß, wenn er Seraphine rettungslos liebte, er selber von ihr kaum weniger geliebt wurde.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 233-237.
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