Zweites Kapitel

[237] Was Gil Blas und seine Gefährten taten, nachdem sie den Grafen von Polan verlassen hatten; von Ambrosios großem Plan und seiner Ausführung


Nachdem der Graf von Polan uns die halbe Nacht hindurch gedankt und uns versichert hatte, wir könnten auf seine Erkenntlichkeit rechnen, rief er den Wirt, um sich mit ihm zu beraten, wie er in Sicherheit nach Tunis kommen könnte; denn dorthin wollte er sich begeben. Wir ließen den Edelmann seine Maßnahmen treffen. Dann verließen wir den Gasthof und folgten der Straße, die es Lamela gefiel uns zu führen.

Nach zweistündigem Ritt überraschte uns der Tag bei Campillo. Wir zogen sofort in die Berge zwischen diesem Ort und Requena. Dort ruhten wir den Tag über aus und zählten unsere Kasse, die das Geld der Räuber sehr bereichert hatte; denn in ihren Taschen waren mehr als dreihundert Pistolen in verschiedener Münze gefunden worden. Mit Einbruch der Nacht machten wir uns wieder auf, und am folgenden Morgen überschritten wir die Grenze zum Königreich Valencia. Wir verzogen uns in den ersten Wald, der sich unsern Blicken bot, und kamen an einen Ort, wo ein Bach mit kristallklarem Wasser floß, das langsam zu den Fluten des Guadalaviars[237] hinabrann. Wäre es nicht schon zuvor unsre Absicht gewesen, so hätte uns der Schatten der Bäume und das reichliche Gras für unsere Pferde zum Halten bestimmt.

Wir saßen ab und schickten uns an, den Tag sehr angenehm zu verbringen; aber als wir frühstücken wollten, entdeckten wir, daß wir nur noch wenig Vorräte hatten. Es begann uns an Brot zu fehlen, und unser Schlauch war zu einem Leib ohne Seele geworden. Meine Herren, sagte Ambrosio, die reizendste Gegend kann ohne Bacchus und Ceres nicht gefallen. Ich bin dafür, daß wir heute unsre Vorräte erneuern. Zu dem Zweck gehe ich nach Xelva; das ist eine recht schöne Stadt, die nur zwei kleine Wegstunden entfernt ist. Diese Reise habe ich bald gemacht. Mit diesen Worten lud er Schlauch und Quersack auf ein Pferd, stieg darauf und ritt mit einer Geschwindigkeit davon, die eine schnelle Rückkehr versprach.

Wir hatten allen Grund, auf sie zu hoffen, und erwarteten Lamela von Augenblick zu Augenblick; er kehrte jedoch so bald nicht zurück. Mehr als die Hälfte des Tages verstrich; die Nacht schickte sich sogar schon an, die Bäume mit ihren schwarzen Flügeln zu bedecken, als wir unsern Lieferanten, um den wir uns schon Sorge machten, endlich wiedersahen. Er übertraf unsre Erwartung angenehm durch die Menge der Sachen, mit denen er beladen war. Er brachte nicht nur den Schlauch voll trefflichen Weins und den Quersack voll Brot und gebratenen Wildbrets mit: auf seinem Pferd lag noch ein großes Bündel, das wir aufmerksam betrachteten. Er merkte es und sagte lächelnd: Meine Herren, Ihr seht überrascht auf diese Sachen, und ich verzeihe Euch; Ihr wißt nicht, weshalb ich sie in Xelva erstanden habe. Ich möchte es Don Raphael und der ganzen Gesellschaft zu raten geben. Damit band er das Bündel auf, um uns im einzelnen zu zeigen, was wir im ganzen erblickten. Er zeigte uns einen Mantel und ein sehr langes, schwarzes Gewand, zwei Wämser[238] mit den dazugehörigen Hosen; eins jener Schreibzeuge, die aus zwei durch eine Schnur verbundenen Stücken bestehen und deren Tintenstecher von dem Behälter für die Federn getrennt ist; ein Buch schönen, weißen Papiers; ein Vorlegeschloß mit großem Siegel und grünes Wachs; und als er uns alle seine Einkäufe gezeigt hatte, sagte Don Raphael scherzhaft: Bei Gott, Herr Ambrosio, ich muß gestehn, Ihr habt da einen guten Kauf getan. Welchen Gebrauch wollt Ihr davon machen, wenn ich Euch fragen darf? Einen ausgezeichneten, versetzte Lamela. All das hat mich zusammen nur zehn Dublonen gekostet, und ich bin überzeugt, wir werden mehr als fünfhundert damit verdienen; zählt darauf. Ich bin nicht der Mann, mich mit unnötigem Tand zu beladen; und um Euch zu beweisen, daß ich all das nicht als ein Dummkopf gekauft habe, will ich Euch einen Plan mitteilen, den ich entworfen habe; einen Plan, der ohne Zweifel zu den sinnreichsten gehört, die der menschliche Geist ergrübeln kann. Ihr sollt selbst urteilen; hört mich an.

Als ich, fuhr er fort, meinen Vorrat an Brot gekauft hatte, ging ich zu einem Bratenröster, bei dem ich befahl, sechs Rebhühner und ebenso viele junge Hühner und junge Kaninchen auf den Spieß zu stecken. Während diese Tiere brieten, kam in hellem Zorn ein Mensch herein, der sich laut über das Verhalten eines Händlers der Stadt ihm gegenüber beklagte und zu dem Bratenröster sagte: Beim heiligen Jakob! Samuel Simon ist der lächerlichste Händler von Xelva. Er hat mir im offenen Laden einen Schimpf angetan. Der Filz hat mir keine sechs Ellen Tuch auf Kredit geben wollen; und dabei weiß er recht wohl, daß ich ein zahlungsfähiger Handwerker bin und daß er bei mir nichts zu verlieren hat. Man muß wahrlich diesen Tölpel bewundern! Gern verkauft er Leuten von Stande auf Kredit. Lieber will er bei ihnen Gefahr laufen als einen ehrlichen Bürger gefahrlos verpflichten. Was für eine Manie! Der verfluchte Jude! Möge er hereinfallen![239] Meine Wünsche werden noch eines Tages erfüllt; viele Händler würden mir dafür bürgen.

Als ich diesen Handwerker so reden hörte, kam mich die Lust an, ihn zu rächen und Samuel Simon einen Streich zu spielen. Mein Freund, sagte ich zu dem Manne, der sich über diesen Händler beschwerte, von welchem Charakter ist der Mensch, von dem Ihr sprecht? Von sehr schlechtem Charakter, versetzte er schroff. Er ist einer der schlimmsten Wucherer, obgleich er den Schein eines Ehrenmannes wahrt. Er ist ein Jude, der katholisch geworden ist; aber im Grunde seines Herzens ist er noch so sehr Jude wie Kaiphas; denn man sagt, er sei aus Geschäftsinteressen zum Christentum übergetreten.

Ich lieh den Worten des Handwerkers ein aufmerksames Ohr und verfehlte nicht, als ich den Bratenröster verließ, mich nach Samuel Simons Wohnung zu erkundigen. Irgend jemand gab mir Auskunft und zeigte sie mir. Ich ließ den Blick durch seinen Laden schweifen und prüfte alles; und meine Phantasie, die mir stets rasch gehorcht, gebar einen Gaunerstreich, den ich reiflich überlegte und der mir eines Dieners des Herrn Gil Blas sehr würdig scheint. Ich gehe in einen Trödlerladen und kaufe diese Gewänder ein, eins für die Rolle des Inquisitors, das zweite für die des Protokollanten und das dritte für die eines Alguasils. Das habe ich getan, meine Herren, und das hat meine Rückkehr ein wenig verzögert.

Ach, mein teurer Ambrosio, unterbrach ihn an dieser Stelle Don Raphael in heller Freude, das ist eine wunderbare Idee, ein schöner Plan! Ich bin eifersüchtig auf die Erfindung. Gern gäbe ich die größten Streiche meines Lebens für einen so glücklichen Einfall her. Ja, Lamela, mein Freund, fuhr er fort, ich erkenne den ganzen Reichtum deines Entwurfs, und die Ausführung soll dir keine Sorge machen. Du brauchst zwei gute Schauspieler zur Hilfe; sie sind gefunden. Du hast[240] ein Frömmlergesicht, du wirst einen guten Inquisitor abgeben; ich will den Protokollanten spielen, und der Herr Gil Blas wird freundlichst den Alguasil übernehmen. Die Rollen, fuhr er fort, sind also verteilt; morgen spielen wir das Stück, und ich bürge für den Erfolg, wenn nicht noch einer jener Zwischenfälle eintritt, die die besten Pläne in Verwirrung bringen.

Ich sah den Plan, den Don Raphael so schön fand, erst nur äußerst unklar; aber beim Nachtmahl klärte man mich auf, und der Streich schien mir wirklich recht sinnreich. Nachdem wir einen Teil des Wildbrets vertilgt und unsern Schlauch reichlich zur Ader gelassen hatten, streckten wir uns im Grase aus und waren bald eingeschlafen. Doch unsre Ruhe war nicht von langer Dauer: der unerbittliche Ambrosio unterbrach sie eine Stunde darauf. Auf, auf! rief er schon vor Tagesanbruch; wer ein großes Unternehmen vorhat, darf nicht faul sein. Zum Henker! Herr Inquisitor, sagte Don Raphael, als er emporschreckte, seid Ihr wachsam! Das ist für Herrn Samuel Simon gar nicht gut. Das gebe ich zu, versetzte Lamela. Ich will Euch noch sagen, fügte er lachend hinzu, daß ich heute nacht geträumt habe, ich risse ihm Haare aus dem Bart. Ist das nicht ein schlimmer Traum für ihn, Herr Protokollant? Diesen Scherzen folgten noch tausend andre, die uns alle in gute Laune versetzten. Wir frühstückten lustig und kleideten uns dann für die Rollen an, die wir zu spielen hatten. Ambrosio zog sich das lange Gewand an und legte den Mantel um, so daß er ganz aussah wie ein Kommissar der Inquisition. Don Raphael und ich glichen in unsern Masken auch nicht übel den Protokollanten und Alguasils. Wir brauchten lange zu der Verkleidung; und erst nach zwei Uhr nachmittags verließen wir den Wald, um nach Xelva zu ziehen. Freilich drängte uns nichts, da wir die Komödie erst mit Einbruch der Nacht beginnen wollten. Wir ritten daher auch im Schritt und machten sogar an den Toren der Stadt noch halt, um den Abend abzuwarten.[241]

Sobald er gekommen war, ließen wir unsre Pferde unter Don Alphonsos Obhut zurück, der sich freute, daß er keine Rolle zu spielen hatte. Don Raphael, Ambrosio und ich, wir zogen zunächst noch nicht zu Samuel Simon, sondern zu einem Schankwirt, der dicht neben seinem Hause wohnte. Der Herr Inquisitor trat als erster ein und sagte voll Ernst zu dem Wirt: Meister, ich möchte im geheimen mit Euch reden; ich habe Euch Dinge mitzuteilen, die den Dienst der Inquisition angehen und die also äußerst wichtig sind. Der Wirt führte uns in einen Saal, wo Lamela, als wir mit dem Mann allein waren sagte: Ich bin Kommissar des Heiligen Amts. Bei diesen Worten erblaßte der Schankwirt, und mit zitternder Stimme antwortete er, er glaubte, er hätte der Heiligen Inquisition keinen Anlaß zur Klage gegeben. Deshalb, versetzte Ambrosio mit sanfter Stimme, denkt auch niemand daran, Euch heimzusuchen. Verhüte Gott, daß sie in zu großem Eifer, zu strafen, die Unschuld mit dem Verbrechen verwechsele! Sie ist streng, aber stets gerecht; mit einem Wort, um ihre Züchtigung zu erfahren, muß man sie verdient haben. Nicht Ihr also führt mich nach Xelva; vielmehr ein Händler, den man Samuel Simon nennt. Über ihn und sein Verhalten hat man uns argen Bericht erstattet. Er ist, sagt man, immer noch Jude; und er hat das Christentum nur aus irdischen Gründen angenommen. Ich befehle Euch im Namen des Ketzergerichts, mir zu sagen, was Ihr von diesem Manne wißt. Hütet Euch, ihn als Nachbar und vielleicht als Freund entschuldigen zu wollen; denn ich erkläre Euch, wenn ich in Eurem Zeugnis die geringste Schonung für ihn finde, so seid Ihr selber verloren. Auf, Protokollant! fuhr er fort, indem er sich zu Raphael wandte, tut Eure Pflicht.

Der Herr Protokollant, der Papier und Schreibzeug schon in der Hand hielt, setzte sich an einen Tisch und rüstete sich mit der ernstesten Miene der Welt, die Aussage des Wirts niederzuschreiben, der seinerseits beteuerte, er werde nicht[242] von der Wahrheit abweichen. Dann, sagte der Inquisitionskommissar, können wir beginnen. Antwortet nur auf meine Fragen, mehr verlange ich nicht. Seht Ihr Samuel Simon in die Kirchen gehn? Darauf habe ich nie geachtet, erwiderte der Schankwirt; ich entsinne mich nicht, ihn in der Kirche gesehen zu haben. Gut, rief der Inquisitor, schreibt: Man sieht ihn nie in den Kirchen. Das behaupte ich nicht, gnädiger Herr, versetzte der Wirt; ich sage nur, daß ich ihn dort nicht gesehen habe. Er kann in einer Kirche sein, in der ich bin, ohne daß ich ihn bemerke. Mein Freund, entgegnete Lamela, Ihr vergeßt, daß Ihr in Eurem Verhör Samuel Simon nicht entschuldigen dürft; ich habe Euch schon vor den Folgen gewarnt. Ihr sollt nur Dinge sagen, die gegen ihn sprechen; kein Wort aber zu seinen Gunsten! In dem Fall, Herr Lizentiat, erwiderte der Wirt, werdet Ihr von meiner Aussage nicht viel Nutzen haben. Ich kenne den Händler, um den es sich handelt, nicht, ich kann weder Gutes noch Übles über ihn sagen; aber wenn Ihr wissen wollt, wie er in seinem Hause lebt, so will ich Kaspar, seinen Gehilfen, holen lassen; den könnt Ihr verhören. Dieser Bursche kommt zuweilen mit seinen Freunden her, um ein Glas zu trinken. Ich kann Euch versichern, er hat eine gute Zunge; er wird schwätzen, soviel Ihr wollt; er wird Euch das ganze Leben seines Herrn beichten und Eurem Protokollanten, auf Ehre, zu schaffen machen.

Ich liebe Euren Freimut, sagte Ambrosio da; das nenne ich Eifer für das Heilige Amt bezeigen, wenn man mir einen Menschen namhaft macht, der über Simons Sitten unterrichtet ist. Ich werde der Inquisition darüber berichten. Eilt also, fuhr er fort, und holt mir diesen Kaspar, von dem Ihr sprecht; aber macht es unauffällig, damit sein Herr nicht ahne, was vorgeht. Der Schankwirt entledigte sich seines Auftrags mit viel Heimlichkeit und Eile. Er führte den Gehilfen herbei. Dieser war in der Tat ein höchst geschwätziger[243] junger Mann, genau, wie wir ihn brauchten. Willkommen, mein Sohn! sagte Lamela. Ihr seht in mir einen Inquisitor, ernannt vom Heiligen Amt, die Untersuchung gegen Samuel Simon zu führen, den man beschuldigt, er halte es mit den Juden. Ihr wohnt bei ihm; Ihr seid also Zeuge der meisten seiner Handlungen. Ich glaube nicht, daß ich Euch erst sagen muß, daß Ihr verpflichtet seid, anzugeben, was Ihr von ihm wißt, wenn ich es Euch im Namen der Heiligen Inquisition befehle. Herr Lizentiat, versetzte der Gehilfe, Ihr könntet Euch an niemanden wenden, der mehr geneigt wäre, Euch über alles aufzuklären, was Ihr wissen wollt; ich bin ganz bereit, Euch darin zufriedenzustellen, auch ohne daß Ihr es mir im Namen der Inquisition befehlt. Wenn man meinen Herrn über mich verhörte, so bin ich überzeugt, er würde mich nicht schonen; also werde auch ich ihn nicht schönfärben, und ich will Euch zunächst sagen, daß er ein Duckmäuser ist, dessen geheime Empfindungen sich unmöglich entwirren lassen, ein Mensch, der sich den Schein eines Heiligen gibt, aber im Grunde durchaus nicht tugendhaft ist. Er geht jeden Abend zu einer kleinen Grisette ... Es freut mich, das zu hören, unterbrach Ambrosio; ich sehe aus dem, was Ihr mir sagt, daß er ein Mensch von schlechten Sitten ist; aber antwortet genau auf die Fragen, die ich Euch stellen werde. Ich bin beauftragt, besonders zu untersuchen, welches seine religiösen Anschauungen sind. Sagt: Eßt Ihr in Eurem Hause Schweinefleisch? Ich glaube nicht, erwiderte Kaspar, daß wir, seitdem ich da bin, seit einem Jahr, zweimal welches gegessen haben. Schön, sagte der Herr Inquisitor, schreibt, Protokollant, daß man bei Samuel Simon niemals Schweinefleisch esse. Dafür, fuhr er fort, ißt man bei Euch zweifellos bisweilen Lamm? Ja, bisweilen, erwiderte der Gehilfe; wir haben zum Beispiel letzte Ostern eins gegessen. Der Zeitpunkt trifft sich gut, rief der Kommissar; schreibt, Protokollant: Simon feiert das Passahfest. Das geht[244] ja ausgezeichnet, und mir scheint, wir erhalten eine gute Anklage.

Sagt mir doch noch, mein Freund, fuhr Lamela fort, ob Ihr Euren Herrn niemals habt kleine Kinder hätscheln sehn. Tausendmal, gab Kaspar zur Antwort. Wenn er vor unserm Laden kleine Kinder vorbeigehen sieht, hält er sie, wenn sie hübsch sind, an und streichelt sie. Schreibt, Protokollant, unterbrach der Inquisitor: Samuel Simon steht im dringenden Verdacht, kleine Christenkinder anzulocken und zu schächten. Ein schöner Proselyt! Oh, oh, Herr Simon! Ihr werdet, auf mein Wort, mit der Inquisition zu tun bekommen! Glaubt nicht, daß sie Euch ungestraft Eure barbarischen Opfer bringen läßt. Mut! eifriger Kaspar, sagte er zu dem Gehilfen, erzählt mir alles. Ist es nicht wahr, daß Ihr ihn einen Tag in der Woche in völliger Untätigkeit verbringen seht? Nein, erwiderte Kaspar, das habe ich nie bemerkt. Ich sehe nur, daß er sich an bestimmten Tagen in seinem Bureau einschließt und sehr lange darin bleibt. Ah, da haben wir es! rief der Kommissar; er feiert den Sabbat, oder ich bin kein Inquisitor. Schreibt, Protokollant, schreibt, daß er das Sabbatfest streng beobachte. Dieser schändliche Mensch! Mir bleibt nur noch eine Frage. Spricht er nicht auch von Jerusalem? Sehr oft, versetzte der Gehilfe. Er erzählt uns die Geschichte der Juden und wie der Tempel von Jerusalem zerstört worden sei. Ganz recht, sagte Ambrosio; vergeßt mir diesen Zug nicht, Protokollant; schreibt mit großen Lettern, Samuel Simon strebe einzig nach dem Wiederaufbau des Tempels und Tag und Nacht sinne er über die künftige Größe seines Volkes. Mehr will ich nicht wissen, und es ist nutzlos, noch andere Fragen zu stellen. Was der wahrheitsliebende Kaspar ausgesagt hat, würde genügen, ein ganzes Ghetto auf den Scheiterhaufen zu bringen.

Nachdem der Herr Kommissar der Inquisition den Gehilfen also verhört hatte, sagte er ihm, er könnte sich zurückziehen;[245] aber er befahl ihm im Namen der Heiligen Inquisition, nicht über das, was vorgefallen war, mit seinem Herrn zu reden. Kaspar versprach Gehorsam und ging. Wir folgten ihm bald; wir verließen den Gasthof so ernst, wie wir gekommen waren, und klopften an Samuel Simons Tür. Er öffnete selber; und wenn er erstaunt war, drei Gestalten wie unsre bei sich zu sehn, so war er es noch mehr, als Lamela, der das Wort führte, ihm in befehlendem Tone sagte: Meister Samuel Simon, ich befehle Euch im Namen der Heiligen Inquisition, deren Kommissar zu sein ich die Ehre habe, mir den Schlüssel zu Eurem Bureau zu geben. Ich will sehn, ob ich nicht Zeugnisse finde, die die Anklage rechtfertigen, die bei uns gegen Euch erhoben worden ist.

Der Händler, den diese Worte aus der Fassung brachten, wich zwei Schritte zurück, als hätte man ihm einen Stoß vor den Magen versetzt. Weit davon entfernt, einen Streich zu wittern, glaubte er allen Ernstes, ein heimlicher Feind habe ihn beim Heiligen Amt verdächtigt; vielleicht auch fühlte er, daß er kein guter Katholik sei, und hatte also Grund, eine Untersuchung zu fürchten. Wie dem auch sei, nie habe ich einen Menschen in größerer Angst gesehn. Er gehorchte ohne Widerstand und mit der Achtung dessen, der die Inquisition fürchtet. Er schloß uns sein Bureau auf. Wenigstens, sagte Ambrosio, nehmt Ihr die Befehle des Heiligen Amtes ohne Empörung hin. Aber, fügte er hinzu, zieht Euch in ein andres Zimmer zurück und laßt mich in Ruhe tun, was meines Amtes ist. Samuel lehnte sich gegen diesen Befehl sowenig auf wie gegen den ersten; er blieb im Laden, und wir drangen zu dritt in das Bureau, wo wir uns ohne Zeitverlust daran machten, sein Geld zu suchen. Wir fanden es mühelos in einer offenen Truhe, die weit mehr enthielt, als wir mitnehmen konnten; nur war alles in Silber: Gold wäre uns lieber gewesen; aber man mußte sich fügen. Wir füllten die Taschen mit Talern und steckten auch welche in[246] unsre Stiefel und wo wir sie sonst verbergen konnten. Schließlich waren wir schwer beladen, ohne daß man es sah, und dadurch zeigten Ambrosio und Don Raphael mir, daß nichts besser ist, als wenn man sein Handwerk versteht.

Als wir in den Laden zurückkehrten nahm der Herr Inquisitor aus Gründen, die der Leser leicht erraten wird, das Vorlegeschloß, befestigte es selber an der Tür, versiegelte es und sagte zu Simon: Meister Samuel, ich verbiete Euch im Namen der Inquisition, an dieses Schloß zu rühren, ebenso wie an dies Siegel, das ihr achten müßt, denn es ist das Siegel des Heiligen Amts. Morgen komme ich um dieselbe Stunde wieder, um es abzunehmen und Euch Befehle zu überbringen. Damit ließ er die Tür zur Straße öffnen, durch die wir einer nach dem andern fröhlich hinauszogen. Gleich nach den ersten fünfzig Schritten begannen wir, trotz der Last, die wir trugen, mit solcher Geschwindigkeit und Leichtigkeit zu laufen, daß wir kaum noch den Boden berührten. Bald hatten wir die Stadt im Rücken; wir sprangen auf unsre Pferde und ritten auf Segorbe zu davon, indem wir dem Gott Merkur für den glücklichen Ausgang dankten.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 237-247.
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