Erstes Kapitel

[389] Gil Blas bricht nach Asturien auf; er kommt durch Valladolid


Während ich mich anschickte, mit Scipio von Madrid aufzubrechen, um nach Asturien zu ziehen, ernannte Paul V. den Herzog von Lerma zum Kardinal. Der Papst, der im Königreich Neapel die Inquisition einführen wollte, verlieh dem Minister den Purpur, um durch ihn den König Philipp für einen so löblichen Plan zu gewinnen. Alle, die dies neue Mitglied des Heiligen Kollegiums genügend kannten, fanden wie ich, daß die Kirche eine schöne Erwerbung machte.

Scipio, der mich lieber wieder in einer glänzenden Stellung bei Hofe gesehen hätte als in der Einsamkeit begraben, riet mir, mich vor dem neuen Kardinal zu zeigen. Vielleicht, sagte er, wird Seine Eminenz, wenn er Euch auf Befehl des Königs in Freiheit sieht, nicht mehr glauben, er müsse tun, als sei er erzürnt gegen Euch, und dann kann er Euch wieder in seine Dienste nehmen. Herr Scipio, erwiderte ich, Ihr vergeßt, so scheint es, eins: ich habe die Freiheit nur unter der Bedingung erhalten, daß ich unverzüglich die beiden Kastilien verlasse. Glaubt Ihr übrigens, ich sei meines Gutes in Lirias schon müde? Ich habe Euch schon gesagt und ich wiederhole Euch: wenn der Herzog von Lerma mir seine Gunst wieder zuwendete, ja wenn er mir die Stellung Don Rodrigo de Calderones böte, so lehnte ich sie ab. Mein Entschluß ist gefaßt: ich will nach Oviedo gehn, meine Eltern aufsuchen und mich mit ihnen zurückziehn; ich will dir gern die Hälfte[389] meines Geldes geben; du bleibst in Madrid und bringst es so weit, wie du kannst.

Wie! rief mein Sekretär, ein wenig gerührt von meinen Worten, könnt Ihr mich in Verdacht haben, es widerstrebe mir, Euch in die Einsamkeit zu folgen? Dieser Argwohn verletzt meinen Eifer und meine Anhänglichkeit. Wie! Scipio, dieser treue Diener, der, um Eure Not zu teilen, gern den Rest seiner Tage im Turm von Segovia geblieben wäre, sollte Euch nur ungern an einen Aufenthalt folgen, der ihm tausend Freuden verspricht? Nein, Herr, nein, ich möchte Euch nicht von Eurem Entschluß abreden. Ich muß Euch meine Bosheit eingestehn: als ich Euch riet, Euch dem Herzog von Lerma zu zeigen, geschah es, weil es mich freute, Euch prüfen zu können, um so zu erfahren, ob nicht doch noch eine Spur des Ehrgeizes in Euch ruhte. Nun, da Ihr so völlig frei seid von allem Streben nach Würden und Ehren, laßt uns schleunigst den Hof verlassen, um jene unschuldigen und köstlichen Freuden zu genießen, von denen wir uns eine so reizende Vorstellung machen.

Wir brachen wirklich etwas später auf; wir reisten in einer von zwei guten Maultieren gezogenen Kutsche; gelenkt wurde sie von einem Burschen, um den ich mein Gefolge zu vermehren für geraten hielt. Am ersten Abend blieben wir in Alcala de Henares, am zweiten in Segovia, von wo aus ich, ohne mir Zeit zu gönnen und den großmütigen Burgherrn Tordesillas aufzusuchen, nach Peñafiel am Douro fahren ließ und einen Tag darauf nach Valladolid. Beim Anblick dieser Stadt konnte ich mich nicht enthalten, einen tiefen Seufzer auszustoßen. Mein Gefährte, der ihn hörte, fragte mich nach dem Anlaß. Mein Freund, sagte ich, hier habe ich lange die Heilkunst ausgeübt. Ich kann nicht ruhig daran denken; mein Gewissen macht mir noch jetzt geheime Vorwürfe. Was sage ich! Mir ist, als ständen all die Kranken, die ich getötet habe, aus ihren Gräbern auf, um mich zu zerreißen. Was für[390] eine Einbildung! sagte mein Sekretär. Wahrlich, Herr von Santillana, Ihr seid zu gut. Weshalb bereuen, daß Ihr Euren Beruf ausübtet? Seht die ältesten Ärzte an: haben sie solche Gewissensbisse? O nein! sie treiben es immerfort weiter und schreiben die Todesfälle der Natur zur Last, während sie sich jeden glücklichen Ausgang zur Ehre anrechnen.

Freilich, erwiderte ich, war der Doktor Sangrado, dessen Methode ich getreu befolgte, von dieser Art. Wenn er auch täglich zwanzig Menschen unter seinen Händen sterben sah, er war so von dem Wert des Aderlasses und des vielen Wassertrinkens überzeugt, daß er, statt seinen beiden Allheilmitteln schuld zu geben, vielmehr glaubte, die Kranken stürben nur, weil sie nicht genug getrunken und nicht genug Blut verloren hätten. Bei Gott! lachte Scipio auf, Ihr redet mir da von einem tollen Burschen!

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 389-391.
Lizenz: