Zwölftes Kapitel

[348] Gil Blas spielt weiter den großen Herrn. Er erhält Nachricht von seiner Familie; welchen Eindruck das auf ihn macht


Ich habe schon gesagt, daß morgens in meinem Vorzimmer meist eine Menge Leute warteten, die ein Anliegen an mich hatten; aber ich wollte sie nicht mehr anhören, und nach der Sitte des Hofes, oder eigentlich, um mir mehr Ansehn zu geben, sagte ich zu jedem Bittsteller: Gebt mir eine Denkschrift. Ich hatte mich daran schon so gewöhnt, daß ich eines Morgens auch dem Besitzer des von mir gemieteten Hauses mit diesen Worten antwortete, als er kam, um mich daran zu erinnern, daß ich ihm für ein Jahr die Miete schuldete. Mein Schlächter und mein Bäcker ersparten mir längst die Mühe, Denkschriften von ihnen einzufordern: sie brachten mir pünktlich jeden Monat eine. Scipio, der mich so gut kopierte, daß man sagen kann, die Kopie sei dem Original sehr nahe gekommen, verfuhr nicht anders gegen alle, die ihn bitten wollten, daß er mich bestimme, ihnen Dienste zu leisten.

Ich litt noch unter einer andern Lächerlichkeit, die ich nicht beschönigen will: ich war albern genug, von den größten Herren so zu reden, als wäre ich ihres gleichen. Wenn ich zum Beispiel den Herzog von Alba, den Herzog von Ossuna oder den Herzog von Medina Sidonia erwähnte, so sagte ich ohne Umstände Alba, Ossuna und Medina Sidonia. Mit einem Wort, ich war so hochmütig und so eitel geworden, daß[348] ich nicht mehr der Sohn meines Vaters und meiner Mutter war. Ach! arme Dueña und armer Diener, ich erkundigte mich nicht, ob ihr in Asturien im Glück oder im Elend lebtet! Daran dachte ich nicht! Ihr kamt mir nie in den Sinn! Der Hof besitzt die Kraft des Flusses Lethe, so daß wir Eltern und Freunde vergessen, wenn sie in schlimmer Lage sind.

Ich entsann mich also meiner Familie kaum noch, als eines Morgens ein junger Mann bei mir eintrat, der mich einen Augenblick allein zu sprechen wünschte. Ich ließ ihn in mein Arbeitszimmer treten, wo ich, ohne ihm einen Stuhl anzubieten, denn er schien mir ein gewöhnlicher Mann zu sein, nach seinen Wünschen fragte. Herr Gil Blas, sagte er, wie! Ihr erkennt mich nicht mehr? Ich mochte ihn noch so aufmerksam betrachten, ich mußte ihm entgegnen, seine Züge seien mir völlig unbekannt. Ich bin ein Landsmann von Euch, sagte er, aus Oviedo selber gebürtig, der Sohn Bertram Muscadas, des Krämers neben Eurem Onkel, dem Domherrn. Ich erkenne Euch wohl wieder. Wir haben tausendmal zusammen Blindekuh gespielt.

Ich habe, erwiderte ich, nur eine sehr wirre Erinnerung an die Vergnügungen meiner Kindheit; das, womit ich mich seither beschäftigt habe, hat all das ausgelöscht. Ich bin, sagte er, nach Madrid gekommen, um mit dem Geschäftsfreund meines Vaters abzurechnen. Ich hörte von Euch. Man sagte mir, Ihr ständet Euch gut bei Hofe und wäret schon reich wie ein Jude. Ich mache Euch mein Kompliment, und bei meiner Heimkehr werde ich Eurer Familie die größte Freude machen, wenn ich ihr eine so angenehme Nachricht bringe.

Ich konnte anständigerweise nicht unterlassen, ihn zu fragen, wie es meinem Vater, meiner Mutter und meinem Onkel ginge; aber ich erfüllte diese Pflicht so kühl, daß ich meinem Krämer keinen Anlaß gab, die Macht des Blutes zu bewundern. Er schien empört über meine Gleichgültigkeit gegen die Personen, die mir so teuer sein mußten; und da er[349] ein offener, ungeschliffener Bursche war, so sagte er grob: Ich glaubte, Ihr wäret zärtlicher und liebevoller gegen Eure Anverwandten. Wie eisig fragt Ihr mich nach ihnen! Es scheint, Ihr habt sie vergessen! Wißt Ihr, in welcher Lage sie sind? Erfahrt, daß Euer Vater und Eure Mutter immer noch dienen und daß der gute Domherr Gil Perez, von Alter und Schwäche übermannt, seinem Ende nicht mehr fern ist. Ihr müßt doch natürliche Empfindung haben! fuhr er fort; und da Ihr imstande seid, an Euren Eltern Gutes zu tun, so rate ich Euch als Freund, schickt ihnen jährlich zweihundert Pistolen. Durch diese Hilfe verschafft Ihr ihnen ein ruhiges und glückliches Leben, ohne daß es Euch schwerfällt.

Statt von dem Bild, das er mir von meiner Familie entwarf, gerührt zu sein, empfand ich nur, daß er sich eine Freiheit herausnahm, wenn er mir unerbetene Ratschläge gab. Mit mehr Geschick hätte er mich vielleicht überredet; aber durch seine Offenheit empörte er mich nur. Er merkte es wohl an meinem unzufriedenen Schweigen; und da er seine Ermahnungen mit weniger Nachsicht als Bosheit fortsetzte, so riß mir die Geduld. Oh, das ist zuviel! versetzte ich erregt. Geht, Herr von Muscada, kümmert Euch nur um das, was Euch angeht. Sucht den Geschäftsfreund Eures Vaters auf und rechnet mit ihm ab. Euch kommt es geradezu, mich meine Pflicht zu lehren! Ich weiß besser als Ihr, was ich in diesem Falle zu tun habe. Ich schob den Krämer zum Zimmer hinaus und schickte ihn nach Oviedo, Pfeffer und Nelken zu verkaufen.

Was er mir gesagt hatte, stand mir aber doch vor Augen; ich warf mir selber vor, ich sei ein unnatürlicher Sohn, und wurde weich. Ich dachte daran, wie man in meiner Kindheit für mich und meine Erziehung gesorgt hatte; ich hielt mir vor, was ich meinen Eltern verdankte; und meine Überlegungen hatten ein Überströmen des Gefühls zur Folge, das trotzdem zu nichts führte. Meine Undankbarkeit erstickte es bald, und tiefstes Vergessen folgte. Es gibt gar viele Väter, die solche Söhne haben.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 348-350.
Lizenz: