Achtes Kapitel

[210] Infolge welchen Zwischenfalles Gil Blas die Marquise von Chaves verließ


Sechs Monate war ich schon bei der Marquise von Chaves, und ich war sehr zufrieden mit meiner Stellung. Aber das Schicksal, das ich zu erfüllen hatte, erlaubte mir nicht, noch länger im Hause dieser Dame noch auch in Madrid zu bleiben. Folgendes Abenteuer zwang mich zur Flucht.

Unter den Frauen meiner Herrin war eine namens Porcia. Abgesehen von ihrer Jugend und Schönheit, fand ich sie von so guter Gemütsart, daß ich ihr zugeneigt war, ohne zu ahnen, daß ich um ihr Herz würde kämpfen müssen. Der Sekretär der Marquise, ein stolzer und eifersüchtiger Mensch, war in meine Schöne verliebt. Er hatte kaum meine Liebe bemerkt, als er beschloß, ohne erst zu fragen, mit welchen Augen Porcia mich ansah, mich vor die Klinge zu fordern. Zu diesem Zweck gab er mir eines Morgens an abgelegenem Platze ein Stelldichein. Da er ein kleiner Mensch war, der mir kaum bis an die Schulter reichte und sehr schwächlich aussah, so hielt ich ihn nicht für einen gefährlichen Rivalen. Zuversichtlich begab ich mich an den Ort, den er mir bezeichnet hatte. Ich zählte auf einen leichten Sieg und dachte, mich dessen bei Porcia zu rühmen; aber der Ausgang entsprach meiner Hoffnung nicht. Der kleine Sekretär, der zwei oder drei Jahre geübt hatte, entwaffnete mich wie ein Kind und setzte mir die Degenspitze auf die Brust: Sei auf den Todesstoß gefaßt, sagte er, oder gib mir dein Ehrenwort, daß[210] du noch heute die Marquise von Chaves verläßt und nie mehr an Porcia denkst. Ich gab ihm gern das Versprechen und hielt es ohne Widerwillen. Es wäre mir schmerzlich gewesen, nach dieser Niederlage vor die Dienstboten unsres Hauses und vor allem vor die schöne Helena zu treten, die der Gegenstand unseres Kampfes gewesen war. Ich kehrte nur noch in die Wohnung zurück, um alles, was ich an Sachen und Geld besaß, zu holen, und selbigen Tages brach ich nach Toledo auf. Meine Börse war gut gefüllt, mein Rücken mit einem Bündel beladen, das all mein Gepäck enthielt. Obgleich ich mich nicht verpflichtet hatte, Madrid zu verlassen, hielt ich es doch für geraten, wenigstens auf ein paar Jahre fortzugehen. Ich entschloß mich, Spanien zu durchziehen und in einer Stadt nach der anderen zu verweilen. Mein Geld, sagte ich, wird mich lange durchbringen; ich werde es nicht unvorsichtig ausgeben; und wenn ich nichts mehr habe, so werde ich wieder Dienste nehmen. Ein Bursche wie ich findet Stellung, sobald er nur danach sucht; ich brauche nur zu wählen.

Mich verlangte besonders danach, Toledo zu sehn; und nach drei Tagen kam ich dort an. Ich stieg in einem guten Gasthof ab, wo ich als ein vornehmer Kavalier galt, weil ich nicht verfehlt hatte, mich mit dem Kostüm meiner galanten Abenteuer zu schmücken; und infolge der Elegant-Manieren, die ich annahm, stand es nur bei mir, mit den schönen Frauen anzuknüpfen, die in meiner Nachbarschaft wohnten; aber da ich erfahren hatte, daß man sich bei ihnen mit großen Ausgaben einführen mußte, so zügelte ich meine Begierden. Ich fand immer noch Geschmack am Reisen, und also brach ich, nachdem ich alles Sehenswerte in Toledo betrachtet hatte, eines Tages mit dem Morgengrauen wieder auf, und in der Absicht, nach Aragon zu gehn, schlug ich die Straße von Cuenza ein. Am zweiten Tage trat ich in ein Gasthaus am Wege, und als ich mich dort zu erfrischen begann, traf ein Trupp Häscher der heiligen Hermandad ein. Diese Herren[211] verlangten Wein und begannen zu trinken. Ich hörte, wie sie dabei einen jungen Mann beschrieben, den zu verhaften sie Auftrag hatten. Der Kavalier, sagte einer von ihnen, ist höchstens dreiundzwanzig Jahre alt; er hat langes, schwarzes Haar und eine Adlernase; er ist von schöner Gestalt und reitet einen Braunen. –

Ich hörte ihnen zu, scheinbar ohne auf ihre Worte zu achten, und in der Tat kümmerten sie mich kaum. Ich verließ das Gasthaus und setzte meinen Weg fort. Aber kaum hatte ich eine viertel Wegstunde hinter mir, so holte ich einen jungen, schöngewachsenen Kavalier auf einem kastanienbraunen Pferde ein. Meiner Treu! dachte ich bei mir, das ist der Fremde, den die Häscher suchen, oder ich täusche mich sehr. Ich muß ihm einen guten Dienst erweisen. Herr, sagte ich zu ihm, erlaubt, daß ich Euch frage, ob Ihr nicht irgendeinen Ehrenhandel hinter Euch habt. Der junge Mann warf, ohne zu antworten, einen Blick auf mich und schien von meiner Frage überrascht. Ich versicherte ihm, daß ich nicht aus Neugier fragte. Er glaubte es mir, als ich ihm erzählte, was ich in dem Gasthaus vernommen hatte. Hochherziger Unbekannter, sagte er, ich will Euch nicht verhehlen, ich habe Grund zu der Annahme, daß diese Häscher es wirklich auf mich absehen; ich werde also einen andern Weg einschlagen, um ihnen zu entgehn. Ich bin dafür, versetzte ich, daß wir einen sichern Ort aufsuchen, der uns auch vor dem Gewitter Schutz gewährt, das ich am Himmel sehe und das bald niedergehen muß. Zugleich entdeckten wir unter ziemlich dicht stehenden Bäumen einen Weg, der uns an den Fuß eines Berges führte, in dem wir eine Einsiedelei erblickten.

Es war eine große, tiefe Grotte, die das Wetter in den Berg gerissen hatte, und Menschenhand hatte einen Vorbau aus Geröll und Muschelkalk hinzugefügt und das Ganze mit Gras überzogen. Rings war der Boden übersät mit tausend verschiedenen Blumen, die die Luft durchdufteten; und neben[212] der Grotte sah man eine kleine Öffnung im Felsen, aus der rauschend eine Quelle floß und sich über die Wiese ergoß. Am Eingang dieser einsamen Behausung saß ein Einsiedler, vom Alter tief gebeugt. Er stützte sich mit der einen Hand auf einen Stock, und in der andern hielt er einen Rosenkranz. Sein Kopf stak in einer baumwollenen Mütze mit langen Ohren, und sein Bart, weißer als Schnee, fiel ihm bis auf den Gürtel herab. Wir gingen auf ihn zu. Mein Vater, sagte ich, erlaubt Ihr, daß wir Euch um eine Zuflucht vor dem Gewitter bitten, das uns droht? Kommt, meine Kinder, versetzte der Klausner, nachdem er mich aufmerksam angesehen hatte; diese Einsiedelei steht euch offen, und ihr könnt bleiben, solange ihr wollt. Euer Pferd, fügte er hinzu, indem er auf den Vorbau zeigte, wird dort gut aufgehoben sein. Der Kavalier, der mich begleitete, führte sein Pferd hinein, und wir folgten dem Greis in die Grotte.

Kaum waren wir drinnen, so begann ein schwerer Regen zu fallen, durchschnitten von Blitzen und furchtbaren Donnerschlägen. Der Einsiedler kniete vor einem Bild des heiligen Pacomius, das an die Wand geklebt war, nieder, und wir folgten seinem Beispiel. Unterdessen ging das Gewitter vorüber. Wir standen auf; aber da der Regen fortdauerte und die Nacht nicht mehr fern war, sagte der Greis zu uns: Meine Kinder, ich rate euch nicht, euch bei diesem Wetter schon wieder auf den Weg zu machen, wenn ihr nicht dringende Geschäfte habt. Wir antworteten, wir hätten keine, die uns hinderten zu bleiben, und wenn wir ihm nicht lästig zu fallen fürchteten, so würden wir ihn bitten, uns zu erlauben, daß wir die Nacht in seiner Höhle verbrächten. Ihr werdet mir nicht lästig fallen, versetzte der Einsiedler. Nur ihr seid zu beklagen; ihr werdet ein schlechtes Lager haben, und ich kann euch nur ein sehr ärmliches Mahl bieten.

Nach diesen Worten ließ uns der Einsiedler an einem kleinen Tisch Platz nehmen, setzte uns ein paar Zwiebeln, ein Stück[213] Brot und einen Krug Wasser vor und sagte: Meine Kinder, ihr seht mein gewohntes Mahl; aber heute will ich euch zu Ehren etwas Besonderes tun. Und er holte ein wenig Käse und zwei Hände voll Haselnüsse herbei und legte das auf den Tisch. Der junge Mann, der keinen Hunger hatte, tat dem Gericht nicht viel Ehre an. Ich sehe, sagte der Einsiedler, Ihr seid an eine bessere Tafel gewöhnt als die meine, oder vielmehr, die Sinnenlust hat Euren natürlichen Geschmack verdorben. Ich bin in der Welt gewesen wie Ihr. Die zartesten Speisen, die köstlichsten Ragouts waren mir nicht zu gut; aber seit ich in der Einsamkeit lebe, habe ich meinem Geschmack seine ganze Reinheit zurückgewonnen. Ich liebe nur noch Wurzeln, Früchte und Milch, mit einem Wort, das, was die Nahrung unsrer ersten Väter gebildet hat.

Während seiner Worte versank der junge Mann in tiefes Sinnen. Der Einsiedler bemerkte es. Mein Sohn, sagte er, Euch lastet etwas auf der Seele. Darf ich nicht wissen, was Euch bedrückt? Öffnet mir Euer Herz. Ich dränge Euch nicht aus Neugier, mich beseelt einzig das Erbarmen. Ich stehe in einem Alter, in dem man raten kann, und Ihr seid vielleicht in einer Lage, in der Ihr des Rats bedürft. Ja, mein Vater, sagte der Kavalier und seufzte, ich bedarf ohne Zweifel des Rats, und ich will dem Euren folgen, da Ihr so gut seid, ihn mir anzubieten. Ich glaube, ich laufe keine Gefahr, wenn ich mich einem Mann wie Euch offenbare. Nein, mein Sohn, sagte der Greis, Ihr habt nichts zu fürchten; mir kann man alles anvertrauen. Da sprach der Kavalier wie folgt zu ihm:

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 210-214.
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