Zehntes Kapitel

[226] Was für ein Mensch der alte Einsiedler war und wie Gil Blas merkte, daß er sich bei Bekannten befand


Als Don Alphonso seine traurige Erzählung beendet hatte, sagte der alte Einsiedler: Mein Sohn, es war recht unklug von Euch, so lange in Toledo zu bleiben. Ich sehe alles, was Ihr mir erzählt habt, mit andern Augen an, und Eure Liebe zu Seraphine scheint mir reine Narrheit. Glaubt mir und gebt Euch keiner Täuschung hin: Ihr müßt diese junge Dame, die nicht die Eure werden kann, vergessen. Folgt lieber Eurem Stern, der Euch noch viele andre Abenteuer verspricht. Ihr werdet ohne Zweifel noch eine zweite junge Dame finden, die denselben Eindruck auf Euch macht und der Ihr nicht den Bruder getötet habt.

Er wollte noch vieles hinzufügen, um Don Alphonso zur Geduld zu mahnen, als wir einen zweiten Einsiedler in die Höhle treten sahen, der einen vollen Quersack trug; er hatte in der Stadt Cuenza eine ertragreiche Sammlung veranstaltet. Er schien jünger als sein Gefährte, und er trug einen sehr dichten, roten Bart. Willkommen, Antonio! sagte der alte Klausner; welche Nachrichten bringt Ihr aus der Stadt? Recht schlimme, erwiderte der rote Bruder, indem er ihm ein zusammengefaltetes Papier hinreichte; dieser Brief wird Euch das Weitere lehren. Der Greis faltete ihn auseinander, und als er ihn mit aller ihm gebührenden Aufmerksamkeit gelesen hatte, rief er: Gott sei Lob! Da sie Lunte riechen, müssen wir uns danach richten. Schlagen wir einen andern Ton an, Don Alphonso, fuhr er fort, das Wort an den jungen Kavalier richtend: Ihr seht einen Mann, der wie Ihr die Zielscheibe der Launen des Glücks ist. Man schreibt mir aus Cuenza, daß man mich bei der Justiz angeschwärzt habe und daß alle ihre Diener morgen aufbrechen sollten, um sich in dieser Einsiedelei meiner Person zu versichern. Aber sie werden[227] den Hasen nicht mehr im Lager finden. Ich sehe mich nicht zum ersten Male in solcher Verlegenheit. Gott sei Dank habe ich mich noch immer als Mann von Geist herausgezogen. Ich werde mich in neuer Gewandung zeigen; denn wie Ihr mich hier seht, bin ich nichts weniger als ein Greis und ein Einsiedler.

Damit legte er das lange Gewand ab, und man sah darunter ein Wams aus schwarzer Serge mit geschlitzten Ärmeln. Dann warf er die Mütze ab, löste eine Schnur, die den falschen Bart festhielt und plötzlich stand er als ein Mann von achtundzwanzig bis dreißig Jahren da. Auch Bruder Antonio tat sein Einsiedlerkleid ab, befreite sich von seinem roten Bart und zog aus einer alten Holztruhe eine schäbige Soutane her vor, die er anzog. Aber man stelle sich meine Überraschung vor, als ich in dem alten Klausner den Herrn Don Raphael erkannte und in Bruder Antonio meinen sehr teuren und sehr getreuen Diener Ambrosio de Lamela. Bei Gott! rief ich alsbald, ich bin, wie ich sehe, unter Bekannten! Freilich, Herr Gil Blas, sagte Don Raphael lachend, Ihr findet zwei Freunde, wo Ihr sie am wenigsten erwartet hättet. Ich gebe zu, Ihr habt Grund, Euch über uns zu beklagen; aber lassen wir die Vergangenheit und danken wir dem Himmel, der uns wieder vereinigt. Ambrosio und ich, wir bieten Euch unsre Dienste an; sie sind nicht zu verachten. Haltet uns nicht für schlimme Leute. Wir greifen niemand an und ermorden niemand; wir suchen nur auf andrer Kosten zu leben; und wenn es unrecht ist, zu stehlen, so hebt die Not das Unrecht auf. Verbündet Euch mit uns, und Ihr werdet ein Vagantenleben führen. Das ist ein sehr angenehmes Leben, wenn man sich klug zu verhalten weiß. Nicht, als ob uns nicht zuweilen durch die Verkettung sekundärer Ursachen schlimme Abenteuer begegneten; aber einerlei, wir treffen auch gute. Wir sind an den Wechsel der Zeiten gewöhnt und an die Launen des Glücks. Herr Kavalier, fuhr der falsche Einsiedler, zu Don Alphonso[228] gewendet, fort, wir machen Euch denselben Vorschlag, und ich glaube, in der Lage, in der Ihr zu sein scheint, solltet Ihr ihn nicht abweisen; denn ohne von dem Handel zu reden, der Euch nötigt, Euch zu verbergen, habt Ihr zweifellos nicht sehr viel Geld. Nein, wahrhaftig, sagte Don Alphonso, und das, ich gestehe es, mehrt meinen Kummer. Nun, versetzte Don Raphael, so verlaßt uns nicht. Ihr könnt nichts Besseres tun, als Euch uns anzuschließen. Es wird Euch an nichts fehlen, und wir werden alle Nachforschungen Eurer Feinde vereiteln. Wir kennen fast ganz Spanien, denn wir haben es durchzogen. Wir wissen, wo die Berge sind, die Wälder und all die Orte, die als Zuflucht vor der Brutalität der Justiz zu dienen vermögen. Don Alphonso dankte ihnen für ihren guten Willen; und da er wirklich ohne Geld und ohne Hilfsmittel war, so beschloß er, sie zu begleiten. Ich entschloß mich auch dazu, weil ich diesen jungen Mann, zu dem ich große Neigung in mir keimen fühlte, nicht verlassen wollte.

Als das erledigt war, wurde überlegt, ob wir sofort aufbrechen sollten oder zuvor einen Schlauch voll trefflichen Weins anzapfen, den der Bruder Antonio am Tage zuvor aus der Stadt Cuenza mitgebracht hatte. Aber Raphael hielt uns als derjenige, der die meiste Erfahrung hatte, vor Augen, daß es vor allem an unsre Sicherheit zu denken galt; er war dafür, daß wir die ganze Nacht hindurch marschieren sollten, um einen dichten Wald zwischen Villardesa und Almodabar zu erreichen; dort sollten wir haltmachen und uns in Ruhe den Tag über erholen. Die falschen Einsiedler machten aus all ihren Sachen und Vorräten zwei Bündel und luden sie Don Alphonsos Pferd auf den Rücken. Das geschah in äußerster Eile. Dann marschierten wir die ganze Nacht, und wir begannen uns schon sehr müde zu fühlen, als wir bei Tagesanbruch den Wald bemerkten, zu dem wir wollten. Der Anblick des Hafens gab den von langer Seefahrt ermatteten Matrosen neue Kraft. Wir faßten Mut und kamen schließlich[229] noch vor Sonnenaufgang am Ziel unsres Marsches an. Wir drangen in das Dickicht des Waldes ein und machten an einer freundlichen Stelle halt, auf einem Rasen, der von mehreren großen Eichen umgeben war, deren verschlungene Äste ein Gewölbe bildeten; hier konnte uns die Tageshitze nicht erreichen. Wir schirrten das Pferd ab, um es grasen zu lassen. Dann lagerten wir uns, zogen aus Antonios Quersack ein paar große Stücke Brot und mehrere Stücke Braten hervor und begannen, es uns um die Wette schmecken zu lassen. Aber so hungrig wir auch waren, wir hörten oft zu essen auf, um dem Schlauch zuzusprechen, der immer nur von einem Arm zum anderen wanderte. Als die Mahlzeit beendet war, streckten sich Don Raphael und Don Alphonso im Grase aus. Ich folgte ihrem Beispiel, und Lamela zog auf Posten.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 226-230.
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