Vorbemerkung des Verfassers

Da es Menschen gibt, die nicht lesen können, ohne nach den Modellen der lasterhaften oder lächerlichen Gestalten zu suchen, die sie in einem Werke finden, so erkläre ich diesen boshaften Lesern, daß sie nur zu Unrecht die im vorliegenden Buch enthaltenen Porträts auf lebende Vorbilder beziehen könnten. Ich beteure öffentlich: Mein Ziel war einzig, das Leben der Menschen darzustellen, wie es ist; Gott verhüte, daß ich irgend jemanden hätte insbesondere kennzeichnen wollen! Also nehme auch kein Leser für sich in Anspruch, was sich, so gut wie auf ihn, auf andere beziehen kann; oder, wie Phädrus sagt, er verrät sich törichterweise: Stulte nudabit animi conscientiam.

Man findet wie in Frankreich so auch in Kastilien Ärzte, die ihre Kranken gern ein wenig zuviel zur Ader lassen. Überall findet man dieselben Laster und dieselben Originale. Ich gebe zu, nicht immer habe ich mich streng an die spanischen Sitten gehalten; und wer da weiß, in welcher Unordnung die Madrider Schauspielerinnen leben, könnte mir vorwerfen, ich hätte ihre Ausschweifungen nicht kräftig genug gezeichnet; aber ich glaubte, sie mildern zu müssen, um sie unseren Lebensformen ähnlicher zu machen.[5]

Gil Blas an den Leser

Bevor du die Geschichte meines Lebens anhörst, teurer Leser, lausche einem Märchen, das ich dir erzählen will.

Zwei Schüler zogen zusammen von Penafiel nach Salamanca. Da sie müde und durstig waren, machten sie unterwegs am Rande eines Brunnens Halt. Und als sie dort, nachdem sie getrunken hatten, ausruhten, sahen sie zufällig neben sich auf einer Steinplatte im Boden eine Inschrift. Die Witterung und die Hufe der Herden, die man zur Tränke an diesen Brunnen trieb, hatten sie schon halb zerstört, aber sie gossen Wasser auf den Stein, um ihn rein zu spülen, und vermochten alsbald die kastilischen Worte zu lesen: Aqui està encerrada el alma del licenciado Pedro Garcias: Hier liegt die Seele des Lizentiaten Pedro Garcias verschlossen.

Der jüngere der beiden Schüler, ein lebhafter, leichtsinniger Bursch, hatte kaum ausgelesen, als er unter lautem Lachen ausrief: Ein wundervoller Scherz! Hier liegt die Seele ... Eine eingeschlossene Seele! Ich möchte wissen, welcher Kauz sich eine so lächerliche Grabschrift hat schreiben können! Und mit diesen Worten stand er auf und ging davon. Der andere war einsichtsvoller und sagte sich: Darunter steckt ein Geheimnis; ich will hier bleiben, um es aufzuklären. Er ließ also seinen Gefährten ziehen und machte sich unverzüglich daran, rings mit seinem Messer den Stein zu unterhöhlen. Seine Arbeit war erfolgreich, und bald konnte er die[7] Platte heben. Er fand eine Lederbörse darunter und öffnete sie: es lagen hundert Dukaten und eine Karte darin, auf der er in lateinischer Sprache die Worte las: Sei mein Erbe, du, der du Geist genug besaßest, um den Sinn der Inschrift zu entwirren, und mache von meinem Gelde besseren Gebrauch als ich. Der Schüler fügte, von dieser Entdeckung entzückt, den Stein wieder ein, wie er gelegen hatte, und zog mit der Seele des Lizentiaten nach Salamanca weiter.

Wer du auch seist, mein teurer Leser, dem einen oder dem anderen von diesen Schülern wirst du gleichen. Wenn du meine Abenteuer liest, ohne der moralischen Lehren zu achten, die sie enthalten, wirst du keinen Nutzen aus diesem Werke ziehen; wenn du sie aber aufmerksam liest, so wirst du in ihnen nach Horazens Vorschrift das Nützliche finden, gemischt mit dem Unterhaltenden.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 5-8.
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