Achtes Kapitel

[100] In welchem Zustand Diego seine Familie vor fand, und nach welchen Lustbarkeiten Gil Blas und er sich trennten


Wir übernachteten an diesem Tage zwischen Moyados und Malpuesta in einem kleinen Dorf, dessen Namen ich vergessen habe; und am Morgen darauf kamen wir gegen elf Uhr in der Ebene von Olmedo an. Herr Gil Blas, sagte mein Gefährte, dort liegt mein Geburtsort; ich kann ihn nicht ohne Rührung sehn, so natürlich ist es, daß man seine Heimat liebt. Herr Diego, gab ich zur Antwort, wer so viel Liebe für seine Heimat bekundet, sollte ein wenig freundlicher von ihr sprechen, als Ihr es tatet. Olmedo scheint mir eine Stadt, und Ihr habt mir gesagt, es sei ein Dorf; Ihr mußtet es mindestens einen großen Flecken nennen. Ich will ihm Genugtuung widerfahren lassen, erwiderte der Barbier. Aber ich will Euch sagen, nachdem ich Madrid, Toledo und Saragossa gesehen habe und all die andern großen Städte, in denen ich war, als ich durch Spanien zog, sehe ich die kleinen als bloße Dörfer an.

Je weiter wir in der Ebene kamen, um so deutlicher schien es uns, als sähen wir viele Menschen um Olmedo; und als wir näher in Sehweite kamen, fanden wir Dinge, die unsre Blicke zu fesseln geeignet waren. In einigem Abstand voneinander waren drei Zelte errichtet, und bei ihnen rüsteten viele Köche und Küchenjungen ein großes Fest. Die einen legten Gedecke auf lange Tafeln, die unter den Zeltsegeln standen; die andern füllten irdene Krüge mit Wein; wieder andre ließen Kessel kochen; und viele endlich drehten Spieße, an denen allerlei Fleisch briet. Aber aufmerksamer als alles andre sah ich mir ein großes Theater an, das man errichtet hatte. Es war mit einer in mancherlei Farben bemalten Pappdekoration verziert und mit griechischen und lateinischen Sprüchen versehen. Kaum erblickte der Barbier diese Inschriften, so sagte er: All diese[101] griechischen Worte riechen stark nach meinem Onkel Thomas; ich wette, er hat die Hand im Spiel; denn, unter uns, er ist ein geschickter Mann. Er kennt eine Menge von Schulbüchern auswendig. Mich ärgert nur, daß er unaufhörlich Stellen aus ihnen in die Unterhaltung einflicht, was nicht jedermann gefällt. Außerdem hat er lateinische Dichter und griechische Autoren übersetzt. Er beherrscht das Altertum, wie man an seinen schönen Anmerkungen sehen kann. Ohne ihn wüßten wir nicht, daß in Athen die Kinder weinten, wenn man sie schlug: diese Entdeckung verdanken wir seiner tiefen Gelehrsamkeit.

Jetzt kam uns die Lust an, zu erfahren, weshalb man diese Vorbereitungen traf. Wir wollten uns gerade erkundigen, als Diego in einem Mann, der wie der Festordner aussah, den Herrn Thomas de la Fuenta erkannte. Wir gingen eiligst auf ihn zu. Der Schulmeister entsann sich nicht gleich des jungen Barbiers, so hatte dieser sich in den zehn Jahren verändert. Als er ihn aber nicht mehr verkennen konnte, umarmte er ihn herzlich und sagte gerührt: Ah! da bist du ja, Diego, mein lieber Neffe, da bist du wieder in der Stadt, in der du geboren wurdest! Du kehrst zu deinen Penaten zurück, und der Himmel führt dich wohlbehalten deiner Familie zu. O dreifach, vierfach glücklicher Tag! Albo dies notanda lapillo! Es gibt viel Neues, mein Freund, fuhr er fort: dein Onkel Pedro, der Schöngeist, ward ein Opfer Plutos; er ist vor drei Monaten gestorben. Der Geizhals fürchtete zeit seines Lebens, es werde ihm am Nötigsten fehlen: Argenti pallebat amore. Trotz der ansehnlichen Pensionen, die ihm ein paar große Herren zahlten, gab er im Jahr für seinen Unterhalt keine zehn Pistolen aus; er hielt sich sogar einen Diener, den er nicht ernährte. Dieser Narr, unsinniger noch als Aristippos, der Grieche, der mitten in Libyen all die Reichtümer hinwerfen ließ, die seine Sklaven trugen, wie eine Last, die sie in ihrem Marsch aufhielt, häufte alles Gold und Silber an, dessen er habhaft werden konnte. Und für wen? Für Erben,[102] die er nicht sehen wollte. Er hatte dreißigtausend Dukaten, die dein Vater, dein Onkel Bertram und ich uns teilten. Wir können jetzt unsre Kinder gut versorgen. Mein Bruder Nikolaus hat deine Schwester Therese schon vergeben; er hat sie gerade mit dem Sohn eines unsrer Alkalden vermählt: Connubio iunxit stabili propriamque dicavit. Und diesen Bund, der unter den günstigsten Auspizien geschlossen wurde, feiern wir seit zwei Tagen mit solchem Aufwand. Jeder der Erben Pedros hat sein Zelt und bestreitet einen Tag lang die Kosten. Ich wollte, du wärest früher gekommen, dann hättest du auch den Anfang unsrer Lustbarkeiten erlebt. Vorgestern, am Tage der Hochzeit, trug dein Vater die Kosten; gestern deckte dein Onkel, der Krämer, den Tisch; heute geht alles auf meine Rechnung, und ich werde den Bürgern von Olmedo ein Schauspiel meiner eigenen Erfindung bieten: Finis coronabit opus. Ich habe ein Theater errichten lassen und werde auf ihm mit Gottes Hilfe durch meine Schüler ein Stück aufführen lassen, das ich gedichtet habe. Es führt den Titel ›Die Vergnügungen Muley Budjentufs, Königs von Marokko‹. Es wird ausgezeichnet gespielt werden, denn meine Schüler deklamieren wie die Schauspieler von Madrid. Freilich habe ich sie gedrillt! Ihre Deklamation wird den Stempel des Meisters tragen, ut ita dicam. Vom Stück will ich dir nichts sagen: ich will dir das Vergnügen der Überraschung nicht nehmen. Nur so viel: es wird die Zuschauer hinreißen. Es ist einer jener tragischen Stoffe, die die Seele durch die Bilder des Todes rühren. Ich bin der Meinung des Aristoteles: man muß Schrecken erregen. Ach! hätte ich mich dem Theater gewidmet, ich hätte nur blutdürstige Fürsten auf die Bühne gebracht und Mörderhelden; ich hätte mich im Blut gewälzt. In meinen Tragödien wären nicht nur die Hauptpersonen umgekommen, sondern selbst die Wachen; sogar dem Souffleur hätte ich den Hals abgeschnitten. Kurz, ich liebe nur das Grauenhafte; das ist so mein Geschmack.[103]

Inzwischen sahen wir aus dem Dorf große Scharen von Leuten beider Geschlechter in die Ebene kommen. Es war das junge Ehepaar mit dem Geleit der Verwandten und Freunde; vor ihnen her zogen zehn oder zwölf Musikanten, die gemeinsam spielten und ein geräuschvolles Konzert aufführten. Wir gingen ihnen entgegen, und Diego gab sich zu erkennen. Freudenschreie erhoben sich alsbald, und jeder beeilte sich, zu ihm zu kommen. Seine ganze Familie und alle, die anwesend waren, bestürmten ihn mit Umarmungen, worauf sein Vater zu ihm sagte: Sei willkommen, Diego! Du findest deine Eltern ein wenig reicher wieder, mein Freund; mehr sage ich dir vorläufig nicht; ich werde dir das später im einzelnen erklären. Unterdessen zogen alle in der Ebene weiter, begaben sich unter die Zelte und setzten sich um die Tische, die man aufgestellt hatte. Ich verließ meinen Kameraden nicht, und wir speisten beide mit den Neuvermählten, die mir gut zueinander zu passen schienen.

Nach dem Festmahl bezeigten alle Gäste große Ungeduld, das Stück des Herrn Thomas zu sehn, denn, wie sie sagten, zweifelten sie nicht, daß das Erzeugnis eines so schönen Talents gehört zu werden verdiente. Wir zogen zu dem Theater, vor dem die Musikanten sich schon aufgestellt hatten, um in den Zwischenakten zu spielen. Die Schauspieler erschienen auf der Bühne, und der Dichter setzte sich, den Text in der Hand, in die Kulissen, um zu soufflieren. Er hatte uns sein Stück mit Recht als tragisch gerühmt, denn im ersten Akt tötete der König von Marokko zur Erholung hundert maurische Sklaven durch Pfeilschüsse, im zweiten schlug er dreißig portugiesischen Offizieren, die einer seiner Hauptleute zu Kriegsgefangenen gemacht hatte, den Kopf ab, und im dritten legte der Monarch, der seiner Frauen müde war, selber Feuer an seinen Palast, in dem sie eingeschlossen waren, und verwandelte ihn und sie in Asche. Die ganze Ebene hallte von dem Beifall wider, den die schöne Tragödie fand; das bestätigte den guten Geschmack des Dichters und ließ erkennen, daß er seine Stoffe zu wählen verstand.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 100-104.
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