Ein und vierzigstes Stück

[419] Den 18ten September, 1767


Je schlechter es, zu Anfange dieses Jahrhunderts, mit dem italienischen Theater überhaupt aussahe, desto größer war der Beifall und das Zujauchzen, womit die Merope des Maffei aufgenommen wurde.


Cedite Romani scriptores, cedite Graii,

Nescio quid majus nascitur Oedipode:


schrie Leonardo Adami, der nur noch die ersten zwei Akte in Rom davon gesehen hatte. In Venedig ward 1714, das ganze Karneval hindurch, fast kein anderes Stück gespielt, als Merope; die ganze Welt wollte die neue Tragödie sehen[419] und wieder sehen; und selbst die Operbühnen fanden sich darüber verlassen. Sie ward in einem Jahre viermal gedruckt; und in sechszehn Jahren (von 1714–1730) sind mehr als dreißig Ausgaben, in und außer Italien, zu Wien, zu Paris, zu London davon gemacht worden. Sie ward ins Französische, ins Englische, ins Deutsche übersetzt; und man hatte vor, sie mit allen diesen Übersetzungen zugleich drucken zu lassen. Ins Französische war sie bereits zweimal übersetzt, als der Herr von Voltaire sich nochmals darüber machen wollte, um sie auch wirklich auf die französische Bühne zu bringen. Doch er fand bald, daß dieses durch eine eigentliche Übersetzung nicht geschehen könnte, wovon er die Ursachen in dem Schreiben an den Marquis, welches er nachher seiner eignen Merope vorsetzte, umständlich angibt.

»Der Ton, sagt er, sei in der italienischen Merope viel zu naiv und bürgerlich, und der Geschmack des französischen Parterrs viel zu fein, viel zu verzärtelt, als daß ihm die bloße simple Natur gefallen könne. Es wolle die Natur nicht anders als unter gewissen Zügen der Kunst sehen; und diese Züge müßten zu Paris weit anders als zu Verona sein.« Das ganze Schreiben ist mit der äußersten Politesse abgefaßt; Maffei hat nirgends gefehlt; alle seine Nachlässigkeiten und Mängel werden auf die Rechnung seines Nationalgeschmacks geschrieben; es sind wohl noch gar Schönheiten, aber leider nur Schönheiten für Italien. Gewiß, man kann nicht höflicher kritisieren! Aber die verzweifelte Höflichkeit! Auch einem Franzosen wird sie gar bald zu Last, wenn seine Eitelkeit im geringsten dabei leidet. Die Höflichkeit macht, daß wir liebenswürdig scheinen, aber nicht groß; und der Franzose will eben so groß, als liebenswürdig scheinen.

Was folgt also auf die galante Zueignungsschrift des Hrn. von Voltaire? Ein Schreiben eines gewissen de la Lindelle, welcher dem guten Maffei eben so viel Grobheiten sagt, als ihm Voltaire Verbindliches gesagt hatte. Der Stil dieses de la Lindelle ist ziemlich der Voltairische Stil; es ist Schade, daß eine so gute Feder nicht mehr geschrieben hat, und übrigens so unbekannt geblieben ist. Doch Lindelle sei Voltaire, oder[420] sei wirklich Lindelle: wer einen französischen Januskopf sehen will, der vorne auf die einschmeichelndste Weise lächelt, und hinten die hämischsten Grimassen schneidet, der lese beide Briefe in einem Zuge. Ich möchte keinen geschrieben haben; am wenigsten aber beide. Aus Höflichkeit bleibet Voltaire diesseits der Wahrheit stehen, und aus Verkleinerungssucht schweifet Lindelle bis jenseit derselben. Jener hätte freimütiger, und dieser gerechter sein müssen, wenn man nicht auf den Verdacht geraten sollte, daß der nämliche Schriftsteller sich hier unter einem fremden Namen wieder einbringen wollen, was er sich dort unter seinem eigenen vergeben habe.

Voltaire rechne es dem Marquis immer so hoch an, als er will, daß er einer der erstern unter den Italienern sei, welcher Mut und Kraft genug gehabt, eine Tragödie ohne Galanterie zu schreiben, in welcher die ganze Intrigue auf der Liebe einer Mutter beruhe, und das zärtlichste Interesse aus der reinsten Tugend entspringe. Er beklage es, so sehr als ihm beliebt, daß die falsche Delicatesse seiner Nation ihm nicht erlauben wollen, von den leichtesten natürlichsten Mitteln, welche die Umstände zur Verwicklung darbieten, von den unstudierten wahren Reden, welche die Sache selbst in den Mund legt, Gebrauch zu machen. Das Pariser Parterr hat unstreitig sehr Unrecht, wenn es seit dem königlichen Ringe, über den Boileau in seinen Satiren spottet, durchaus von keinem Ringe auf dem Theater mehr hören will;30 wenn es seine Dichter daher zwingt, lieber zu jedem andern, auch dem aller unschicklichsten Mittel der Erkennung seine Zuflucht zu nehmen, als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung, eine Art von Versicherung der Person, verbunden hat. Es hat sehr Unrecht, wenn es nicht will, daß ein junger Mensch, der sich für den Sohn gemeiner Ältern hält, und in dem Lande auf Abenteuer ganz allein herumschweift, nachdem er einen[421] Mord verübt, dem ohngeachtet nicht soll für einen Räuber gehalten werden dürfen, weil es voraus sieht, daß er der Held des Stückes werden müsse;31 wenn es beleidiget wird, daß man einem solchen Menschen keinen kostbaren Ring zutrauen will, da doch kein Fähndrich in des Königs Armee sei, der nicht de belles Nippes besitze. Das Pariser Parterr, sage ich, hat in diesen und ähnlichen Fällen Unrecht: aber warum muß Voltaire auch in andern Fällen, wo es gewiß nicht Unrecht hat, dennoch lieber ihm, als dem Maffei Unrecht zu geben scheinen wollen? Wenn die französische Höflichkeit gegen Ausländer darin besteht, daß man ihnen auch in solchen Stücken Recht gibt, wo sie sich schämen müßten, Recht zu haben, so weiß ich nicht, was beleidigender und einem freien Menschen unanständiger sein kann, als diese französische Höflichkeit. Das Geschwätz, welches Maffei seinem alten Polydor von lustigen Hochzeiten, von prächtigen Krönungen, denen er vor diesen beigewohnt, in den Mund legt, und zu einer Zeit in den Mund legt, wenn das Interesse aufs höchste gestiegen und die Einbildungskraft der Zuschauer mit ganz andern Dingen beschäftiget ist: dieses Nestorische, aber am unrechten Orte Nestorische, Geschwätz, kann durch keine Verschiedenheit des Geschmacks unter verschiedenen kultivierten Völkern, entschuldiget werden; hier muß der Geschmack überall der nämliche sein, und der Italiener hat nicht seinen eigenen, sondern hat gar keinen Geschmack, wenn er nicht eben sowohl dabei gähnet und darüber unwillig wird, als der Franzose. »Sie haben, sagt Voltaire zu dem Marquis, in Ihrer Tragödie jene schöne und rührende Vergleichung des Virgils:


Qualis populea moerens Philomela sub umbra

Amissos queritur foetus – – –


übersetzen und anbringen dürfen. Wenn ich mir so eine Freiheit nehmen wollte, so würde man mich damit in die Epopee verweisen. Denn Sie glauben nicht, wie streng der Herr ist,[422] dem wir zu gefallen suchen müssen; ich meine unser Publikum. Dieses verlangt, daß in der Tragödie überall der Held, und nirgends der Dichter sprechen soll, und meinet, daß bei kritischen Vorfällen, in Ratsversammlungen, bei einer heftigen Leidenschaft, bei einer dringenden Gefahr, kein König, kein Minister poetische Vergleichungen zu machen pflege.« Aber verlangt denn dieses Publikum etwas unrechts, meinet es nicht, was die Wahrheit ist? Sollte nicht jedes Publikum eben dieses verlangen? eben dieses meinen? Ein Publikum, das anders richtet, verdient diesen Namen nicht: und muß Voltaire das ganze italienische Publikum zu so einem Publiko machen wollen, weil er nicht Freimütigkeit genug hat, dem Dichter gerade heraus zu sagen, daß er hier und an mehrern Stellen luxuriere, und seinen eignen Kopf durch die Tapete stecke? Auch unerwogen, daß ausführliche Gleichnisse überhaupt schwerlich eine schickliche Stelle in dem Trauerspiele finden können, hätte er anmerken sollen, daß jenes Virgilische von dem Maffei äußerst gemißbrauchet worden. Bei dem Virgil vermehret es das Mitleiden, und dazu ist es eigentlich geschickt; bei dem Maffei aber ist es in dem Munde desjenigen, der über das Unglück, wovon es das Bild sein soll, triumphieret, und müßte nach der Gesinnung des Polyphonts, mehr Hohn als Mitleid erwecken. Auch noch wichtigere, und auf das Ganze noch größern Einfluß habende Fehler scheuet sich Voltaire nicht, lieber dem Geschmacke der Italiener überhaupt, als einem einzeln Dichter aus ihnen, zur Last zu legen, und dünkt sich von der allerfeinsten Lebensart, wenn er den Maffei damit tröstet, daß es seine ganze Nation nicht besser verstehe, als er; daß seine Fehler die Fehler seiner Nation wären; daß aber Fehler einer ganzen Nation eigentlich keine Fehler wären, weil es ja eben nicht darauf ankomme, was an und für sich gut oder schlecht sei, sondern was die Nation dafür wolle gelten lassen. »Wie hätte ich es wagen dürfen,« fährt er mit einem tiefen Bücklinge, aber auch zugleich mit einem Schnippchen in der Tasche, gegen den Marquis fort, »bloße Nebenpersonen so oft mit einander sprechen zu lassen, als Sie getan haben? Sie dienen bei Ihnen die interessanten Szenen zwischen[423] den Hauptpersonen vorzubereiten; es sind die Zugänge zu einem schönen Palaste; aber unser ungeduldiges Publikum will sich auf einmal in diesem Palaste befinden. Wir müssen uns also schon nach dem Geschmacke eines Volks richten, welches sich an Meisterstücken satt gesehen hat, und also äußerst verwöhnt ist.« Was heißt dieses anders, als: »Mein Herr Marquis, Ihr Stück hat sehr, sehr viel kalte, langweilige, unnütze Szenen. Aber es sei fern von mir, daß ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen sollte! Behüte der Himmel! ich bin ein Franzose; ich weiß zu leben; ich werde niemanden etwas unangenehmes unter die Nase reiben. Ohne Zweifel haben Sie diese kalten, langweiligen, unnützen Szenen mit Vorbedacht, mit allem Fleiße gemacht; weil sie gerade so sind, wie sie Ihre Nation braucht. Ich wünschte, daß ich auch so wohlfeil davon kommen könnte; aber leider ist meine Nation so weit, so weit, daß ich noch viel weiter sein muß, um meine Nation zu befriedigen. Ich will mir darum eben nicht viel mehr einbilden, als Sie; aber da jedoch meine Nation, die Ihre Nation so sehr übersieht« – Weiter darf ich meine Paraphrasis wohl nicht fortsetzen; denn sonst,


Desinit in piscem mulier formosa superne:


aus der Höflichkeit wird Persiflage, (ich brauche dieses französische Wort, weil wir Deutschen von der Sache nichts wissen) und aus der Persiflage, dummer Stolz.

30

Je n'ai pu me servir comme Mr. Maffei d'un anneau, parce que depuis l'anneau royal dont Boileau se moque dans ses satyres, cela semblerait trop petit sur notre theatre.

31

Je n'oserais hazarder de faire prendre un heros pour un voleur, quoique la circonstance ou il se trouve autorise cette meprise.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 419-424.
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