Sechs und vierzigstes Stück

[443] Den 6ten Oktober, 1767


Ein anderes ist, sich mit den Regeln abfinden; ein anderes, sie wirklich beobachten. Jenes tun die Franzosen; dieses scheinen nur die Alten verstanden zu haben.

Die Einheit der Handlung war das erste dramatische Gesetz der Alten; die Einheit der Zeit und die Einheit des Ortes waren gleichsam nur Folgen aus jener, die sie schwerlich strenger beobachtet haben würden, als es jene notwendig erfordert hätte, wenn nicht die Verbindung des Chors dazu gekommen wäre. Da nämlich ihre Handlungen eine Menge Volks zum Zeugen haben mußten, und diese Menge immer die nämliche blieb, welche sich weder weiter von ihren Wohnungen entfernen, noch länger aus denselben wegbleiben konnte, als man gewöhnlichermaßen der bloßen Neugierde wegen zu tun pflegt: so konnten sie fast nicht anders, als den Ort auf einen und eben denselben individuellen Platz, und die Zeit auf einen und eben denselben Tag einschränken. Dieser Einschränkung unterwarfen sie sich denn auch bona fide; aber mit einer Biegsamkeit, mit einem Verstande, daß sie, unter neunmalen, siebenmal weit mehr dabei gewannen, als verloren. Denn sie ließen sich diesen Zwang einen Anlaß sein, die Handlung selbst so zu simplifiieren, alles Überflüssige so sorgfältig von ihr abzusondern, daß sie, auf[443] ihre wesentlichsten Bestandteile gebracht, nichts als ein Ideal von dieser Handlung ward, welches sich gerade in derjenigen Form am glücklichsten ausbildete, die den wenigsten Zusatz von Umständen der Zeit und des Ortes verlangte.

Die Franzosen hingegen, die an der wahren Einheit der Handlung keinen Geschmack fanden, die durch die wilden Intriguen der spanischen Stücke schon verwöhnt waren, ehe sie die griechische Simplizität kennen lernten, betrachteten die Einheiten der Zeit und des Orts, nicht als Folgen jener Einheit, sondern als für sich zur Vorstellung einer Handlung unumgängliche Erfordernisse, welche sie auch ihren reichern und verwickeltern Handlungen in eben der Strenge anpassen müßten, als es nur immer der Gebrauch des Chors erfordern könnte, dem sie doch gänzlich entsagt hatten. Da sie aber fanden, wie schwer, ja wie unmöglich öfters, dieses sei: so trafen sie mit den tyrannischen Regeln, welchen sie ihren völligen Gehorsam aufzukündigen, nicht Mut genug hatten, ein Abkommen. Anstatt eines einzigen Ortes, führten sie einen unbestimmten Ort ein, unter dem man sich bald den, bald jenen, einbilden könne; genug, wenn diese Orte zusammen nur nicht gar zu weit aus einander lägen, und keiner eine besondere Verzierung bedürfe, sondern die nämliche Verzierung ungefähr dem einen so gut als dem andern zukommen könne. Anstatt der Einheit des Tages schoben sie die Einheit der Dauer unter; und eine gewisse Zeit, in der man von keinem Aufgehen und Untergehen der Sonne hörte, in der niemand zu Bette ging, wenigstens nicht öfterer als einmal zu Bette ging, mochte sich doch sonst noch so viel und mancherlei darin eräugnen, ließen sie für einen Tag gelten.

Niemand würde ihnen dieses verdacht haben; denn unstreitig lassen sich auch so noch vortreffliche Stücke machen; und das Sprichwort sagt, bohre das Brett, wo es am dünnsten ist. – Aber ich muß meinen Nachbar nur auch da bohren lassen. Ich muß ihm nicht immer nur die dickeste Kante, den astigsten Teil des Brettes zeigen, und schreien: Da bohre mir durch! da pflege ich durchzubohren! – Gleichwohl schreien die französischen Kunstrichter alle so; besonders wenn sie auf die dramatischen Stücke der Engländer kommen. Was[444] für ein Aufhebens machen sie von der Regelmäßigkeit, die sie sich so unendlich erleichtert haben! – Doch mir ekelt, mich bei diesen Elementen länger aufzuhalten.

Möchten meinetwegen Voltairens und Maffeis Merope acht Tage dauern, und an sieben Orten in Griechenland spielen! Möchten sie aber auch nur die Schönheiten haben, die mich diese Pedanterien vergessen machen!

Die strengste Regelmäßigkeit kann den kleinsten Fehler in den Charakteren nicht aufwiegen. Wie abgeschmackt Polyphont bei dem Maffei öfters spricht und handelt, ist Lindellen nicht entgangen. Er hat Recht über die heillosen Maximen zu spotten, die Maffei seinem Tyrannen in den Mund legt. Die Edelsten und Besten des Staats aus dem Wege zu räumen; das Volk in alle die Wollüste zu versenken, die es entkräften und weibisch machen können; die größten Verbrechen, unter dem Scheine des Mitleids und der Gnade, ungestraft zu lassen u.s.w. wenn es einen Tyrannen gibt, der diesen unsinnigen Weg zu regieren einschlägt, wird er sich dessen auch rühmen? So schildert man die Tyrannen in einer Schulübung; aber so hat noch keiner von sich selbst gesprochen.39 – Es ist wahr, so gar frostig und wahnwitzig läßt Voltaire seinen Polyphont nicht deklamieren; aber mit unter läßt er ihn doch auch Dinge sagen, die gewiß kein Mann von dieser Art über die Zunge bringt. Z. E.[445]


– Des Dieux quelquefois la longue patience

Fait sur nous à pas lents descendre la vengence –


Ein Polyphont sollte diese Betrachtung wohl machen; aber er macht sie nie. Noch weniger wird er sie in dem Augenblicke machen, da er sich zu neuen Verbrechen aufmuntert:


Eh bien, encor ce crime! – –


Wie unbesonnen, und in den Tag hinein, er gegen Meropen handelt, habe ich schon berührt. Sein Betragen gegen den Aegisth sieht einem eben so verschlagnen als entschlossenen Manne, wie ihn uns der Dichter von Anfange schildert, noch weniger ähnlich. Aegisth hätte bei dem Opfer gerade nicht erscheinen müssen. Was soll er da? Ihm Gehorsam schwören? In den Augen des Volks? Unter dem Geschrei seiner verzweifelnden Mutter? Wird da nicht unfehlbar geschehen, was er zuvor selbst besorgte?40 Er hat sich für seine Person alles von dem Aegisth zu versehen; Aegisth verlangt nur sein Schwert wieder, um den ganzen Streit zwischen ihnen mit eins zu entscheiden; und diesen tollkühnen Aegisth läßt er sich an dem Altare, wo das erste das beste, was ihm in die Hand fällt, ein Schwert werden kann, so nahe kommen? Der Polyphont des Maffei ist von diesen Ungereimtheiten frei; denn dieser kennt den Aegisth nicht, und hält ihn für seinen Freund. Warum hätte Aegisth sich ihm also bei dem Altare nicht nähern dürfen? Niemand gab auf seine Bewegungen Acht; der Streich[446] war geschehen, und er zu dem zweiten schon bereit, ehe es noch einem Menschen einkommen konnte, den ersten zu rächen.

»Merope, sagt Lindelle, wenn sie bei dem Maffei erfährt, daß ihr Sohn ermordet sei, will dem Mörder das Herz aus dem Leibe reißen, und es mit ihren Zähnen zerfleischen.41 Das heißt, sich wie eine Kannibalin, und nicht wie eine betrübte Mutter ausdrücken; das Anständige muß überall beobachtet werden.« Ganz recht; aber obgleich die französische Merope delikater ist, als daß sie so in ein rohes Herz, ohne Salz und Schmalz, beißen sollte: so dünkt mich doch, ist sie im Grunde eben so gut Kannibalin, als die Italienische. –

39

Atto III. Sc. I.

– – – Quando

Saran da poi sopiti alquanto, e queti

Gli animi, I'arte del regnar mi giovi.

Per mute oblique vie n'andranno a Stige

L'alme piu audaci, e generose. A i vizi

Per cui vigor si abbatte, ardir si toglie

Il freno allargherò. Lunga clemenza

Con pompa di pietà farò, che splenda

Su i delinquenti; a i gran delitti invito,

Onde restino i buoni esposti, e paghi

Renda gl'iniqui la licenza; ed onde

Poi fra se distruggendosi, in crudeli

Gare private il lor furor si stempri.

Udrai sovente risonar gli editti,

E raddopiar le leggi, che al sovrano

Giovan servate, e transgredite. Udrai

Correr minaccia ognor di guerra esterna;

Ond' io n'andrò su l'atterrita plebe

Sempre crescendo i pesi, e peregrine

Milizie introdurrò. – –

40

Acte I. Sc. 4.

Si ce fils, tant pleuré, dans Messene est produit,

De quinze ans de travaux j'ai perdu tout le fruit.

Crois-moi, ces projugés de sang et de naissance

Revivront dans les coeurs, y prendront sa defense.

Le souvenir du pere, et cent rois pour ayeux,

Cet honneur pretendu d'etre issu de nos Dieux;

Les cris, le desespoir d'une mere eplorée,

Detruiront ma puissance encor mal aussurée.

41

Atto II. Sc. 6.

Quel scelerato in mio poter vorrei

Per trarne prima, s'ebbe parte in questo

Assassinio il tiranno; io voglio poi

Con una scure spalancargli il petto,

Voglio strappargli il cor, voglio co' denti

Lacerarlo, e sbranarlo – –

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 443-447.
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