Sechs und achtzigstes Stück

[627] Den 26sten Februar, 1768


Z. E. Diderot behauptete,136 daß es in der menschlichen Natur aufs höchste nur ein Dutzend wirklich komische Charaktere[627] gäbe, die großer Züge fähig wären; und daß die kleinen Verschiedenheiten unter den menschlichen Charakteren nicht so glücklich bearbeitet werden könnten, als die reinen unvermischten Charaktere. Er schlug daher vor, nicht mehr die Charaktere, sondern die Stände auf die Bühne zu bringen; und wollte die Bearbeitung dieser, zu dem besondern Geschäfte der ernsthaften Komödie machen. »Bisher, sagt er, ist in der Komödie der Charakter das Hauptwerk gewesen; und der Stand war nur etwas Zufälliges: nun aber muß der Stand das Hauptwerk, und der Charakter das Zufällige werden. Aus dem Charakter zog man die ganze Intrigue: man suchte durchgängig die Umstände, in welchen er sich am besten äußert, und verband diese Umstände unter einander. Künftig muß der Stand, müssen die Pflichten, die Vorteile, die Unbequemlichkeiten desselben zur Grundlage des Werks dienen. Diese Quelle scheint mir weit ergiebiger, von weit größerm Umfange, von weit größerm Nutzen, als die Quelle der Charaktere. War der Charakter nur ein wenig übertrieben, so konnte der Zuschauer zu sich selbst sagen: das bin ich nicht. Das aber kann er unmöglich leugnen, daß der Stand, den man spielt, sein Stand ist; seine Pflichten kann er unmöglich verkennen. Er muß das, was er hört, notwendig auf sich anwenden.«

Was Palissot hierwider erinnert,137 ist nicht ohne Grund. Er leugnet es, daß die Natur so arm an ursprünglichen Charakteren sei, daß sie die komischen Dichter bereits sollten erschöpft haben. Moliere sahe noch genug neue Charaktere vor sich, und glaubte kaum den allerkleinsten Teil von denen behandelt zu haben, die er behandeln könne. Die Stelle, in welcher er verschiedne derselben in der Geschwindigkeit entwirft, ist so merkwürdig als lehrreich, indem sie vermuten läßt, daß der Misanthrop schwerlich sein Non plus ultra in dem hohen Komischen dürfte geblieben sein, wann er länger gelebt hätte.138 Palissot selbst ist nicht unglücklich, einige[628] neue Charaktere von seiner eignen Bemerkung beizufügen: den dummen Mäzen, mit seinen kriechenden Klienten; den Mann, an seiner unrechten Stelle; den Arglistigen, dessen ausgekünstelte Anschläge immer gegen die Einfalt eines treuherzigen Biedermanns scheitern; den Scheinphilosophen; den Sonderling, den Destouches verfehlt habe; den Heuchler mit gesellschaftlichen Tugenden, da der Religionsheuchler ziemlich aus der Mode sei. – Das sind wahrlich nicht gemeine Aussichten, die sich einem Auge, das gut in die Ferne trägt, bis ins Unendliche erweitern. Da ist noch Ernte genug für die wenigen Schnitter, die sich daran wagen dürfen!

Und wenn auch, sagt Palissot, der komischen Charaktere wirklich so wenige, und diese wenigen wirklich alle schon bearbeitet wären: würden die Stände denn dieser Verlegenheit abhelfen? Man wähle einmal einen; z. E. den Stand des Richters. Werde ich ihm denn, dem Richter, nicht einen Charakter geben müssen? Wird er nicht traurig oder lustig, ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig oder stürmisch sein müssen? Wird es nicht bloß dieser Charakter sein, der ihn aus der[629] Klasse metaphysischer Abstrakte heraushebt, und eine wirkliche Person aus ihm macht? Wird nicht folglich die Grundlage der Intrigue und die Moral des Stücks wiederum auf dem Charakter beruhen? Wird nicht folglich wiederum der Stand nur das Zufällige sein?

Zwar könnte Diderot hierauf antworten: Freilich muß die Person, welche ich mit dem Stande bekleide, auch ihren individuellen moralischen Charakter haben; aber ich will, daß es ein solcher sein soll, der mit den Pflichten und Verhältnissen des Standes nicht streitet, sondern aufs beste harmonieret. Also, wenn diese Person ein Richter ist, so steht es mir nicht frei, ob ich ihn ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig oder stürmisch machen will: er muß notwendig ernsthaft und leutselig sein, und jedesmal es in dem Grade sein, den das vorhabende Geschäfte erfodert.

Dieses, sage ich, könnte Diderot antworten: aber zugleich hätte er sich einer andern Klippe genähert; nämlich der Klippe der vollkommnen Charaktere. Die Personen seiner Stände würden nie etwas anders tun, als was sie nach Pflicht und Gewissen tun müßten; sie würden handeln, völlig wie es im Buche steht. Erwarten wir das in der Komödie? Können dergleichen Vorstellungen anziehend genug werden? Wird der Nutzen, den wir davon hoffen dürfen, groß genug sein, daß es sich der Mühe verlohnt, eine neue Gattung dafür fest zu setzen, und für diese eine eigene Dichtkunst zu schreiben?

Die Klippe der vollkommenen Charaktere scheinet mir Diderot überhaupt nicht genug erkundiget zu haben. In seinen Stücken steuert er ziemlich gerade darauf los: und in seinen kritischen Seekarten findet sich durchaus keine Warnung davor. Vielmehr finden sich Dinge darin, die den Lauf nach ihr hin zu lenken raten. Man erinnere sich nur, was er bei Gelegenheit des Kontrasts unter den Charakteren, von den Brüdern des Terenz sagt.139 »Die zwei kontrastierten Väter darin sind mit so gleicher Stärke gezeichnet, daß man dem feinsten Kunstrichter Trotz bieten kann, die Hauptperson[630] zu nennen; ob es Micio oder ob es Demea sein soll? Fällt er sein Urteil vor dem letzten Auftritte, so dürfte er leicht mit Erstaunen wahrnehmen, daß der, den er ganzer fünf Aufzüge hindurch, für einen verständigen Mann gehalten hat, nichts als ein Narr ist, und daß der, den er für einen Narren gehalten hat, wohl gar der verständige Mann sein könnte. Man sollte zu Anfange des fünften Aufzuges dieses Drama fast sagen, der Verfasser sei durch den beschwerlichen Kontrast gezwungen worden, seinen Zweck fahren zu lassen, und das ganze Interesse des Stücks umzukehren. Was ist aber daraus geworden? Dieses, daß man gar nicht mehr weiß, für wen man sich interessieren soll. Vom Anfange her ist man für den Micio gegen den Demea gewesen, und am Ende ist man für keinen von beiden. Beinahe sollte man einen dritten Vater verlangen, der das Mittel zwischen diesen zwei Personen hielte, und zeigte, worin sie beide fehlten.«

Nicht ich! Ich verbitte mir ihn sehr, diesen dritten Vater; es sei in dem nämlichen Stücke, oder auch allein. Welcher Vater glaubt nicht zu wissen, wie ein Vater sein soll? Auf dem rechten Wege dünken wir uns alle: wir verlangen nur, dann und wann vor den Abwegen zu beiden Seiten gewarnet zu werden.

Diderot hat Recht: es ist besser, wenn die Charaktere bloß verschieden, als wenn sie kontrastiert sind. Kontrastierte Charaktere sind minder natürlich und vermehren den romantischen Anstrich, an dem es den dramatischen Begebenheiten so schon selten fehlt. Für eine Gesellschaft, im gemeinen Leben, wo sich der Kontrast der Charaktere so abstechend zeigt, als ihn der komische Dichter verlangt, werden sich immer tausend finden, so sie weiter nichts als verschieden sind. Sehr richtig! Aber ist ein Charakter, der sich immer genau in dem graden Gleise hält, das ihm Vernunft und Tugend vorschreiben, nicht eine noch seltenere Erscheinung? Von zwanzig Gesellschaften im gemeinen Leben, werden eher zehn sein, in welchen man Väter findet, die bei Erziehung ihrer Kinder völlig entgegen gesetzte Wege einschlagen, als eine, die den wahren Vater aufweisen könnte. Und dieser wahre Vater ist noch dazu immer der nämliche, ist nur[631] ein einziger, da der Abweichungen von ihm unendlich sind. Folglich werden die Stücke, die den wahren Vater ins Spiel bringen, nicht allein jedes vor sich unnatürlicher, sondern auch unter einander einförmiger sein, als es die sein können, welche Väter von verschiednen Grundsätzen einführen. Auch ist es gewiß, daß die Charaktere, welche in ruhigen Gesellschaften bloß verschieden scheinen, sich von selbst kontrastieren, sobald ein streitendes Interesse sie in Bewegung setzt. Ja es ist natürlich, daß sie sich sodann beeifern, noch weiter von einander entfernt zu scheinen, als sie wirklich sind. Der Lebhafte wird Feuer und Flamme gegen den, der ihm zu lau sich zu betragen scheinet: und der Laue wird kalt wie Eis, um jenem so viel Übereilungen begehen zu lassen, als ihm nur immer nützlich sein können.

136

S. die Unterredungen hinter dem Natürlichen Sohne S. 321. 22. d. Übers.

137

Petites Lettres sur de grands Philosophes Lettr. II.

138

Impromptu de Versailles Sc. 3. Eh! mon pauvre Marquis, nous lui (à Moliere) fournirons toujours assez de matiere, et nous ne prenons guères le chemin de nous rendre sages par tout ce qu'il fait et tout ce qu'il dit. Crois-tu qu'il ait épuisé dans ses Comedies tous les ridicules des hommes, et sans sortir de la Cour, n'a-t-il pas encore vingt caractères de gens, ou il n'a pas touché? N'a-t-il pas, par exemple, ceux qui se font les plus grandes amitiés du monde, et qui, le dos tourné, font galanterie de se dechirer l'un l'autre? N'a-t-il pas ces adulateurs à outrance, ces flatteurs insipides qui n'assaisonnent d'aucun sel les louanges qu'ils donnent, et dont toutes les flatteries ont une douceur fade qui fait mal au cœur à ceux qui les écoutent? N'a-t-il pas ces lâches courtisans de la faveur, ces perfides adorateurs de la fortune, qui vous encensent dans la prosperité, et vous accablent dans la disgrace? N'a-t-il pas ceux qui sont toujours mécontens de la Cour, ces suivans inutiles, ces incommodes assidus, ces gens, dis-je, qui pour services ne peuvent compter que des importunités, et qui veulent, qu'on les recompense d'avoir obsedé le Prince dix ans durant? N'a-t-il pas ceux qui caressent egalement tout le monde, qui promenent leurs civilités à droite, à gauche, et courent à tous ceux qu'ils voyent avec les mêmes embrassades, et les mêmes protestations d'amitié? – – Va, va, Marquis, Moliere aura toujours plus de sujets qu'il n'en voudra, et tout ce qu'il a touché n'est que bagatelle au prix de ce qui reste.

139

In der dr. Dichtkunst hinter dem Hausvater S. 258. d. Übers.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 627-632.
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