Sieben und sechzigstes Stück

[541] Den 22sten Dezember, 1767


Nun folgt eine Szene, die man wohl schwerlich erwartet hätte. Alles ist ruhig und stille, als auf einmal eben die Dame, welcher Essex in dem ersten Akte das Leben rettete, in eben dem Anzuge, die halbe Maske auf dem Gesichte, mit einem Lichte in der Hand, zu dem Grafen in das Gefängnis hereintritt. Es ist die Königin. »Der Graf,« sagt sie vor sich im Hereintreten, »hat mir das Leben erhalten: ich bin ihm dafür verpflichtet. Der Graf hat mir das Leben nehmen wollen: das schreiet um Rache. Durch seine Verurteilung ist der Gerechtigkeit ein Genüge geschehen: nun geschehe es auch der Dankbarkeit und Liebe!«100 Indem sie näher kömmt, wird sie gewahr, daß der Graf schreibt. »Ohne Zweifel.« sagt sie, »an seine Blanca! Was schadet das? Ich komme aus Liebe, aus der feurigsten, uneigennützigsten Liebe: itzt schweige die Eifersucht! – Graf!« – Der Graf hört sich rufen, sieht hinter sich, springt voller Erstaunen auf. »Was seh ich!« – »Keinen Traum«, fährt die Königin fort, »sondern die Wahrheit. Eilen Sie, sich davon zu überzeugen, und lassen Sie uns kostbare Augenblicke nicht mit Zweifeln verlieren. – Sie erinnern sich doch meiner? Ich bin die, der Sie das Leben gerettet. Ich höre,[541] daß Sie morgen sterben sollen; und ich komme, Ihnen meine Schuld abzutragen, Ihnen Leben für Leben zu geben. Ich habe den Schlüssel des Gefängnisses zu bekommen gewußt. Fragen Sie mich nicht, wie? Hier ist er; nehmen Sie; er wird Ihnen die Pforte in den Park eröffnen; fliehen Sie, Graf, und erhalten Sie ein Leben, das mir so teuer ist.« –


ESSEX. Teuer? Ihnen, Madame?

DIE KÖNIGIN. Würde ich sonst so viel gewagt haben, als ich wage?

ESSEX. Wie sinnreich ist das Schicksal, das mich verfolgt! Es findet einen Weg, mich durch mein Glück selbst unglücklich zu machen. Ich scheine glücklich, weil die mich zu befreien kömmt, die meinen Tod will; aber ich bin um so viel unglücklicher, weil die meinen Tod will, die meine Freiheit mir anbietet. –101


Die Königin verstehet hieraus genugsam, daß sie Essex kennet. Er verweigert sich der Gnade, die sie ihm angetragen, gänzlich; aber er bittet, sie mit einer andern zu vertauschen.


DIE KÖNIGIN. Und mit welcher?

ESSEX. Mit der, Madame, von der ich weiß, daß sie in Ihrem Vermögen steht, – mit der Gnade, mir das Angesicht meiner Königin sehen zu lassen. Es ist die einzige, um die ich es nicht zu klein halte, Sie an das zu erinnern, was ich für Sie getan habe. Bei dem Leben, das ich Ihnen gerettet, beschwöre ich Sie, Madame, mir diese Gnade zu erzeigen.

DIE KÖNIGIN vor sich. Was soll ich tun? Vielleicht, wenn er mich sieht, daß er sich rechtfertiget! Das wünsche ich ja nur.

ESSEX. Verzögern Sie mein Glück nicht, Madame.[542]

DIE KÖNIGIN. Wenn Sie es denn durchaus wollen, Graf; wohl: aber nehmen Sie erst diesen Schlüssel; von ihm hängt Ihr Leben ab. Was ich itzt für Sie tun darf, könnte ich hernach vielleicht nicht dürfen. Nehmen Sie; ich will Sie gesichert wissen.102

ESSEX indem er den Schlüssel nimmt. Ich erkenne diese Vorsicht mit Dank. – Und nun, Madame, – ich brenne, mein Schicksal auf dem Angesichte der Königin, oder dem Ihrigen zu lesen.

DIE KÖNIGIN. Graf, ob beide gleich eines sind, so gehört doch nur das, welches Sie noch sehen, mir ganz allein; denn das, welches Sie nun erblicken, Indem sie die Maske abnimmt. ist der Königin. Jenes, mit welchem ich Sie erst sprach, ist nicht mehr.

ESSEX. Nun sterbe ich zufrieden! Zwar ist es das Vorrecht des königlichen Antlitzes, daß es jeden Schuldigen begnadigen muß, der es erblickt; und auch mir müßte diese Wohltat des Gesetzes zu Statten kommen. Doch ich will weniger hierzu, als zu mir selbst, meine Zuflucht nehmen. Ich will es wagen, meine Königin an die Dienste zu erinnern, die ich ihr und dem Staate geleistet –103[543]

DIE KÖNIGIN. An diese habe ich mich schon selbst erinnert. Aber Ihr Verbrechen, Graf, ist größer als Ihre Dienste.

ESSEX. Und ich habe mir nichts von der Huld meiner Königin zu versprechen?

DIE KÖNIGIN. Nichts.

ESSEX. Wenn die Königin so streng ist, so rufe ich die Dame an, der ich das Leben gerettet. Diese wird doch wohl gütiger mit mir verfahren?

DIE KÖNIGIN. Diese hat schon mehr getan, als sie sollte: sie hat Ihnen den Weg geöffnet, der Gerechtigkeit zu entfliehen.

ESSEX. Und mehr habe ich um Sie nicht verdient, um Sie, die mir Ihr Leben schuldig ist?

DIE KÖNIGIN. Sie haben schon gehört, daß ich diese Dame nicht bin. Aber gesetzt ich wäre es: gebe ich Ihnen nicht eben so viel wieder, als ich von Ihnen empfangen habe?

ESSEX. Wo das? Dadurch doch wohl nicht, daß Sie mir den Schlüssel gegeben?

DIE KÖNIGIN. Dadurch allerdings.

ESSEX. Der Weg, den mir dieser Schlüssel eröffnen kann, ist weniger der Weg zum Leben, als zur Schande. Was meine Freiheit bewirken soll, muß nicht meiner Furchtsamkeit zu dienen scheinen. Und doch glaubt die Königin, mich mit diesem Schlüssel, für die Reiche, die ich ihr erfochten, für das Blut, das ich um sie vergossen, für das Leben, das ich ihr erhalten, mich mit diesem elenden Schlüssel für alles das abzulohnen?104 Ich will mein Leben einem anständigern[544] Mittel zu danken haben, oder sterben. Indem er nach dem Fenster geht.

DIE KÖNIGIN. Wo gehen Sie hin?

ESSEX. Nichtswürdiges Werkzeug meines Lebens, und meiner Entehrung! Wenn bei dir alle meine Hoffnung beruhet, so empfange die Flut, in ihrem tiefsten Abgrunde, alle meine Hoffnung! Er eröffnet das Fenster, und wirft den Schlüssel durch das Gitter in den Kanal. Durch die Flucht, wäre mein Leben viel zu teuer erkauft.105

DIE KÖNIGIN. Was haben Sie getan, Graf? – Sie haben sehr übel getan.

ESSEX. Wann ich sterbe: so darf ich wenigstens laut sagen, daß ich eine undankbare Königin hinterlasse. – Will sie aber diesen Vorwurf nicht: so denke sie auf ein anderes Mittel, mich zu retten. Dieses unanständigere habe ich ihr genommen. Ich berufe mich nochmals auf meine Dienste: es steht bei ihr sie zu belohnen, oder mit dem Andenken derselben ihren Undank zu verewigen.

DIE KÖNIGIN. Ich muß das letztere Gefahr laufen. – Denn wahrlich, mehr konnte ich, ohne Nachteil meiner Würde, für Sie nicht tun.

ESSEX. So muß ich dann sterben?

DIE KÖNIGIN. Ohnfehlbar. Die Frau wollte Sie retten; die Königin muß dem Rechte seinen Lauf lassen. Morgen müssen Sie sterben; und es ist schon morgen. Sie haben mein ganzes Mitleid; die Wehmut bricht mir das Herz; aber es[545] ist nun einmal das Schicksal der Könige, daß sie viel weniger nach ihren Empfindungen handeln können, als andere. – Graf, ich empfehle Sie der Vorsicht!

100

El Conde me diò la vida

Y assi obligada me veo;

El Conde me daba muerte,

Y assi ofendida me quexo.

Pues ya que con la sentencia

Esta parte he satisfecho,

Pues cumpli con la justicia,

Con el amor cumplir quiero. –

101

Ingeniosa mi fortuna

Hallò en la dicha mas nuevo

Modo de hacerme infeliz,

Pues quando dichoso veo,

Que me libra quien me mata,

Tambien desdichado advierto,

Que me mata quien me libra.

102

Pues si esto ha de ser, primero

Tomad Conde, aqueste llave,

Que si ha de ser instrumento

De vuestra vida, quiza

Tan otra, quitando el velo,

Serè, que no pueda entonces

Hacer lo que ahora puedo,

Y como a daros la vida

Me empeñè, por lo que os debo,

Por si no puedo despues,

De esta suerte me prevengo.

103

Morirè yo consolado,

Aunque si por privilegio

En viendo la cara al Rey

Queda perdonado el reo;

Yo de este indulto, Señora,

Vida por ley me prometo;

Esto es en comun, que es

Lo que a todos da el derecho;

Pero si en particular

Merecer el perdon quiero,

Oid, vereis, que me ayuda

Mayor indulto en mis hechos,

Mis hazañas – –

104

Luego esta, que assi camino

Abrirà a mi vida, abriendo,

Tambien lo abrirà a mi infamia;

Luego esta, que instrumento

De mi libertad, tambien

Lo havrà de ser de mi miedo.

Esta, que solo me sirve

De huir, es el desempeño

De Reinos, que os he ganado,

De servicios, que os he hecho,

Y en fin, de essa vida, de essa,

Que teneis oy por mi esfuerzo?

En esta se cifra tanto? –

105

Vil instrumento

De mi vida, y de mi infamia,

Por esta rexa cayendo

Del parque, que bate el rio,

Entre sus crystales quiero,

Si sois mi esperanza, hundiros,

Caed al humedo centro,

Donde el Tamasis sepulte

Mi esperanza, y mi remedio.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 541-546.
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