Fünfter Brief

Vom 4. Junius

[539] An Kenntnis der vortrefflichsten Muster fehlte es dem Hrn. Mylius gar nicht. Und wie hätte es ihm auch so leicht daran fehlen können, da er das Hülfsmittel der Sprachen vollkommen wohl in seiner Gewalt hatte? Die vornehmsten lebendigen und toten waren ihm geläufig. Von der lateinischen werden Sie mir es ohne Beweis glauben. In Ansehung der griechischen beruf ich mich auf seine Übersetzungen, die er aus dem Aristophanes und Lucian gemacht hat. Diese letztern werden Sie in der »Sammlung auserlesener Schriften« dieses Sophisten, welche im Jahr 1745 bei Breitkopfen gedruckt ist, finden. Der Hr. Prof. Gottsched machte eine unverlangte Vorrede dazu, mit der er dem Publico einen schlechten Dienst erwies. Die Besorger wurden darüber ungehalten, und anstatt, daß sie uns den ganzen Lucian deutsch[539] liefern wollten, ließen sie es bei dieser Probe bewenden. Ich würde einen langen und trocknen Brief schreiben müssen, wenn ich Ihnen auch alle seine Übersetzungen aus dem Französischen, Italienischen und Englischen anführen wollte. Unter den erstern verdienen ohne Zweifel die »Kosmologie des Hrn. von Maupertuis«, und des »Hrn. Clairaut Anfangsgründe der Algebra« die vorzüglichste Stelle. Beide Werke zu übersetzen, ward etwas mehr als die bloße Kenntnis der Sprache erfordert; einer Sprache in der er übrigens seine Briefe am liebsten abzufassen pflegte. Und ich muß es Ihnen nur beiläufig sagen, daß sein Briefwechsel sehr groß war; größer als ihn vielleicht mancher in dem einträglichsten Amte sitzender Gelehrte, aus Furcht vor den Unkosten, übernehmen möchte. Er war nicht bloß in Deutschland eingeschlossen; er erstreckte sich noch viel weiter, und es war allerdings eine Ehre für ihn, daß er die verbindlichsten Antworten von einem Reaumur, Linnäus, Watson, Lyonet etc. aufweisen konnte. – – Aus dem Italienischen hat Hr. Mylius unter andern in den »Beiträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters«, die Clitia des Machiavells übersetzt; und aus dem Englischen, Popens Versuch über den Menschen. Durch diese letztere Übersetzung, welche in Prosa ist und in dem zweiten Bande der »Hällischen Bemühungen« steht, wollte er die Arbeit des Hrn. Brockes ausstechen. Das Weitschweifende und Wäßrichte seines paraphrastischen Vorgängers hat er zwar leichtlich vermeiden können, allein daß es sonst ohne Fehler auf seiner Seite hätte abgehen sollen, das war so leicht nicht. Ohne Zweifel wußte er damals so viel Englisch noch nicht, und konnte es auch nicht wissen, als er während seines Aufenthalts zu London, in seinem letzten Jahre, durch die Übersetzung von Hogarths »Zergliederung der Schönheit«, zu wissen gezeigt hat. Ja er ist so gar noch selbst, mitten unter den Engländern, ein Schriftsteller in ihrer Sprache geworden. Und zwar ein kritischer Schriftsteller. Er ließ nämlich über ein neues Trauerspiel des Hrn. Glover einen Brief drucken, in welchem er sich Christpraise Myll nannte. Ohne Zweifel wollte er die englischen Leser durch seinen deutschen Namen nicht abschrecken. Noch habe ich diesen Brief[540] nicht gesehen, und ich kenne ihn nur zum Teil aus dem Monthly Review, wo er ganz kaltsinnig und kurz angezeigt wird. Er hat dem Hrn. Glover die Verabsäumung einiger dramatischen Regeln vorgerückt; und Sie wissen wohl, mein Herr, was die Regeln in England gelten. Der Brite hält sie für eine Sklaverei und sieht diejenigen, welche sich ihnen unterwerfen, mit eben der Verachtung und mit eben dem Mitleid an, mit welchem er alle Völker, die sich eine Ehre daraus machen, Königen zu gehorchen, betrachtet, wenn auch diese Könige schon Friedriche sind. Doch ich zweifle, ob Hr. Mylius zu einer wichtigern Kritik aufgelegt war; sein Geist war in Gottscheds Schule zu mechanisch geworden, und der unglückliche Tadler der ewigen Gedichte eines Hallers konnte unmöglich mit seinem Geschmacke bei einem Volke bewundert werden, welches uns dieses Dichters wegen zu beneiden Grund hätte. Wie? werden Sie sagen, der unglückliche Tadler Hallers? Ja, mein Herr, dieses war Hr. Mylius; denn er ist es, aus dessen Feder die Beurteilung des Hallerischen Gedichts, über den Ursprung des Übels, in den ersten Stücken der hällischen Bemühungen, geflossen ist. Ich sage mit Fleiß, aus seiner Feder und nicht aus seinem Kopfe. Der Hr. Prof. Gottsched dachte damals für ihn, und mein Freund hat es nach der Zeit mehr als einmal bereuet, ein so schimpfliches Werkzeug des Neides gewesen zu sein. Doch ich weiß schon, auf wen die größte Schande fällt; auf den ohne Zweifel, auf welchen alle seine Schüler ihre Vergehungen bürden, und ihn, wie den Versöhnungsbock, in die Wüste schicken sollten. – – Aber, bewundern Sie doch mit mir den Hrn. von Haller! Entweder er hat es gewußt, daß ihn Hr. Mylius ehedem so schimpflich kritisiert habe; oder er hat es nicht gewußt. In dem ersten Falle bewundre ich seine Großmut, die auf keine Rache dieser persönlichen Beleidigung gedacht, sondern sich den Beleidiger vielmehr unendlich zu verbinden gesucht hat. In dem andern Falle bewundre ich – – seine Großmut nicht weniger, die sich nicht einmal die Mühe genommen hat, die Namen seiner spöttischen Tadler zu wissen – – Leben Sie wohl. Ich bin etc.[541]

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 539-542.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Vorreden
Gotthold Ephraim Lessings Sämmtliche Schriften: Teil 8. Gesammelte Vorreden. Beiträge zur Kenntniss der deutschen Sprache. Vom Alter der Ölmalerei aus dem Theophilus Presbyter