XVI. Die Geschichte des alten Wolfs,

[265] in sieben Fabeln


Aelianus libr. IV. cap. 15


(1)

Der böse Wolf war zu Jahren gekommen, und faßte den gleißenden Entschluß, mit den Schäfern auf einem gütlichen Fuß zu leben. Er machte sich also auf, und kam zu dem Schäfer, dessen Horden seiner Höhle die nächsten waren.

Schäfer, sprach er, du nennest mich den blutgierigen Räuber, der ich doch wirklich nicht bin. Freilich muß ich mich an deine Schafe halten, wenn mich hungert; denn Hunger tut weh. Schütze mich nur vor dem Hunger; mache mich nur satt, und du sollst mit mir recht wohl zufrieden sein. Denn ich bin wirklich das zahmste, sanftmütigste Tier, wenn ich satt bin.

Wenn du satt bist? Das kann wohl sein: versetzte der Schäfer. Aber wenn bist du denn satt? Du und der Geiz werden es nie. Geh deinen Weg!

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 1, München 1970 ff., S. 265.
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